Ein Haus für vier Schwestern
über …«
Mit großen Augen verfolgte Christina, was sich da abspielte. Sie kauerte auf der Kante ihres Stuhls. Man konnte schwer beurteilen, ob sie von den Vorgängen fasziniert oder bereits auf dem Sprung zur Flucht war.
Jessie lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. Er hatte Auseinandersetzungen erwartet, aber nicht so heftige und sicherlich nicht untereinander. O Gott, er hatte so vieles versäumt mit diesen Frauen. Warum war er eigentlich ein solcher Feigling? Seine Rechtfertigungen erschienen ihm im Nachhinein so unbedeutend, dass sie ihm keinen Rückhalt mehr boten.
»Wenn Ginger recht hat, tut mir das leid, Rachel«, sagte Jessie. »Ich hoffe, ihr bringt das wieder hin – wenn du das willst.«
»Was ich will oder nicht will, geht dich gar nichts an.« Sie wandte sich an Ginger. »Und dich ebenfalls nicht.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Es war dumm von mir, überhaupt herzukommen.«
Ginger legte Rachel eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid. Ich habe mich danebenbenommen.«
Rachel zögerte und gab dann nach. Es folgten ein paar Sekunden angespanntes Schweigen. »Du wusstest nicht, dass du adoptiert warst?«
»Nicht, bis ich deinen Brief bekam.«
»Wow.« Zum ersten Mal trug auch Christina etwas zum Gespräch bei. »Das war sicher ein richtiger Schock.«
Jessie sah seine Jüngste an. Dreiundzwanzig Jahren waren vergangen, seit Carmen ihn davon überzeugt hatte, dass seine unregelmäßigen Besuche Christina mehr schadeten als nutzten. Heute hielten Kinderpsychologen das bewusste Fernbleiben eines Elternteils für ein Verbrechen. Es war unmöglich, ihr klarzumachen, dass er sie aus Liebe verlassen hatte.
»Und du, Christina? Was willst du herausfinden? Welche Fragen kann ich dir beantworten?« Der scharfe Schmerz aus seiner Hüfte schoss von seinen Lenden hinauf bis zu den Rippen und bohrte sich dort fest. Das war neu. Und erschreckend. Gestern wäre es ihm noch gleichgültig gewesen. Heute hatte Zeit wieder eine Bedeutung für ihn bekommen.
Christina zögerte, runzelte die Stirn, hob an zu sprechen und klappte den Mund wieder zu. Dann platzte sie heraus: »Ich dachte, du wärst tot. Meine Mutter hat mir erzählt, dass du gestorben bist. Warum hat sie das gemacht? Warum hast du sie verlassen?«
»Ich war sechsundzwanzig und steckte in einer hässlichen gerichtlichen Auseinandersetzung, bei der ich schließlich den Kürzeren zog und die mich wieder in die Pleite getrieben hat. Deine Mutter ging zurück nach Mexiko. Ich hatte damals keine Möglichkeit, auf legalem Weg das Sorgerecht zu bekommen. Und nach der Heirat wollte Enrique dich adoptieren.«
»Das hat er dann aber doch nicht getan, weißt du das? Ich nahm nur seinen Namen an. Meine Mutter hatte entschieden, das wäre besser so. Wegen meiner US-Staatsbürgerschaft.« Christina sah in an und blinzelte, um nicht zu weinen. »Ich habe dich geliebt. Wie konntest du mich einfach verlassen?«
Christina zog sich die Pulloverärmel über ihre Hände und wischte sich damit die Augen. Als sie fertig war, schob sie ihre Hände unter ihre Oberschenkel. Das strahlende Lächeln kam völlig unerwartet. Wie durch Zauberhand verschwand das verletzte Kind, und eine gefasste, zurückhaltende Frau saß an seiner Stelle. »Also, Dad, wie viele Kinder hast du?«
Es dauerte einen Augenblick, bis Jessie Christinas Verwandlung nachvollzogen hatte. »Du hast drei Schwestern.« Er räusperte sich. »Und da war auch noch ein Bruder. Frank. Er fiel im Krieg, bevor ihr drei geboren wurdet.«
Es war Zeit, ihnen die Fotos zu zeigen. Er zog sie aus der Tasche und legte sie in seinen Schoß.
»In welchem Krieg?«, fragte Christina.
War sie so jung oder er so alt? »Vietnam«, entgegnete er nur.
Rachel mischte sich ein und feuerte sofort aus allen Rohren. »Können wir diesen Wiedervereinigungsmist abkürzen und gleich zu dem Grund kommen, aus dem du uns hergebeten hast?« Sie blickte demonstrativ auf ihre elegante Armbanduhr. »Ich muss in ein paar Stunden zu einem Fußballmatch.«
Ein unglaublich effektiver Ausfall. Jessie war beeindruckt. In wenigen Worten hatte Rachel klargemacht, dass dieses erste Zusammentreffen mit ihrem Vater und ihren Schwestern für sie keinerlei Bedeutung besaß.
»Das ist nicht so schwer zu erklären«, sagte er. Mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr in der Lage, ihnen den wahren Grund zu offenbaren, seine Schuld einzugestehen und um die Vergebung zu bitten, derer er so dringend bedurfte. »Ich wollte euch sehen. Und
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