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Ein Haus für vier Schwestern

Ein Haus für vier Schwestern

Titel: Ein Haus für vier Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgia Bockoven
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war Elizabeth von einer tiefen Müdigkeit überwältigt worden, die ihrem Zorn die Spitze nahm und ihr die Möglichkeit gab, ohne Groll zu antworten. »Für mich gibt es da drin nichts zu gewinnen.«
    »Wie wollen Sie das wissen?«
    »Weil mir inzwischen egal ist, was geschieht.«
    »Wenn es Ihnen wirklich egal wäre, stünden Sie nicht hier.« Die Türen des Aufzugs öffneten sich. Lucy legte eine Hand auf Elizabeths Arm. »Bitte, nur noch einmal. Um ihretwillen, nicht seinetwegen.«
    Elizabeth schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich werde mir das nicht mehr antun.«
    »Ihre Entscheidung wird endgültig sein«, sagte Lucy leise. »Er wird sterben. Es könnte Ihre letzte Chance sein, ihn zu sehen.«
    Elizabeth hinderte mit einer Hand die Türen am Schließen. »Hat er Ihnen erzählt, wie oft ich ihn nach der Trennung von meiner Mutter angefleht habe, sich mit mir zu treffen?« Lucy blieb stumm. »Das habe ich mir gedacht.«
    Elizabeth trat in den Aufzug und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss. Lucy versuchte kein zweites Mal, sie aufzuhalten.

9
    Jessie
    Jessie erhob sich aus dem Lederstuhl, den Lucy ihm aus ihrem Büro herübergeschoben hatte, und ging zum Fenster. Er hielt sich eine volle Minute aufrecht, bevor er sich an der Wand abstützte. Er würde irgendwann einen Krückstock brauchen, in einem oder zwei Monaten, wenn die Schmerzen seinen Stolz ausgelöscht hätten.
    Auf der Capitol Mall unterhalb des Fensters herrschte wenig Betrieb für einen Samstag. Keine gut gekleideten Frauen, die mit zielgerichteten Schritten dahineilten, um ihren Anteil an den Staatsgeschäften effizient zu erledigen. Keine Männer mit Handy am Ohr, die völlig versunken in ihr Gespräch waren und sich das Vergnügen entgehen ließen, den Frauen nachzusehen.
    Das Capitol befand sich zu seiner Linken. Die grüne Kupferkuppel überragte ein Meer aus grünen Baumkronen. Die Bäume sahen genauso alt und imposant aus wie das Gebäude. Jessie hatte früher viele Stunden in der Stadt damit zugebracht, dort seine Angelegenheiten zu vertreten. Er kannte den Gouverneur und verschiedene Vertreter der Legislative, wie man Menschen aus Politik und Wirtschaft kannte, die sich in denselben Kreisen bewegten. Geld und Macht einten sie. Doch wenn es seine Geschäfte nicht erforderten, hatte er sich lieber von ihnen ferngehalten.
    Er sah ungeduldig auf die riesige Tür aus massivem Walnussholz. Wenn seine Töchter ihm auch nur im Entferntesten ähnelten, konnte er sich auf eine harte Auseinandersetzung gefasst machen. Ihre berechtigte Empörung würde sich in Gefühlsausbrüchen und Feindseligkeiten Luft machen. Deshalb hatte er dieses Treffen auch auf einen Samstag gelegt, da waren sie allein in der Kanzlei. Er wollte, dass sie Dampf abließen. Zum Teufel, wenn er ehrlich war, freute er sich sogar darauf.
    Die Warterei machte ihn fertig. Er sah wieder zur Tür, wühlte in seiner Jackentasche und zog vier Fotos mit Eselsohren hervor. Seine Hand zitterte, als er sich ansah, was bereits tief in sein Gedächtnis eingebrannt war: Elizabeth in der fünften Klasse, die neunjährige Rachel mit Rattenschwänzen und Sommersprossen auf der Nase, die vierjährige Ginger mit einem herzzerreißenden Lächeln beim Schaukeln mit hochgereckten Beinen, die dreijährige Christina mit dunklen Augen und fragendem Blick.
    Jessie schob die Fotos zurück an ihren Platz. Es spielte keine Rolle, wie sie heute aussahen. Groß oder klein, dick oder dünn, ihm oder ihren Müttern oder keinem von beiden ähnlich. Das einzig Wichtige war, dass er ihnen verständlich machen musste, warum er sie verlassen hatte. Dass es ihm nicht gleichgültig gewesen war, wie es ihnen erging. Viel zu spät war er zu der Einsicht gelangt, dass es für sie wichtig sein könnte, das zu wissen. Das Bedauern darüber zerfraß ihn ebenso wie sein Krebsgeschwür.
    Er ging zur Anrichte, nahm sich ein Glas Wasser und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Lucy sollte ihre fünf Minuten haben, um die Dinge ins Rollen zu bringen, dann würde er übernehmen. Doch bevor er bequem saß, öffnete sich die Tür. Lucy trat zur Seite und bedeutete ihm, dass sie gleich wieder zurückkommen würde.
    Jessie erhob sich, um die drei Frauen zu begrüßen, die nacheinander und mit wachsamem Blick das Zimmer betraten. Er lächelte und versuchte seine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass sie nur zu dritt waren. Elizabeth hatte ihn erneut zurückgewiesen. Sogar angesichts des Todes konnte sie sich nicht überwinden und

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