Ein Haus für vier Schwestern
etwas gesagt und mir nur zu verstehen gegeben, dass alles in Ordnung sei. Wenn ich heute an sie denke, sehe ich ihr Lächeln. Sie mochte derbe Witze und Pfefferminzbonbons. Und sie pfiff gern. Vor allem aber denke ich an ihre Musik und wie viel sie ihr bedeutete. Musik war ihr Leben. Es ist ziemlich schwer, jemanden zu verstehen, der so in einer einzigen Sache aufgeht. Aus der Ferne betrachtet, rufen solche Menschen Bewunderung oder sogar Neid hervor. Doch kommen wir ihnen zu nahe, brechen sie uns das Herz.«
»Hat sie über mich gesprochen?«
»Nein. Aber ich weiß, dass sie an dich gedacht hat. Hör dir ihre Lieder an. Darin spricht sie zu dir.«
»Woher weißt du das? Hat sie dir das gesagt?«
»Das musste sie nicht.« Jessie blickte sie traurig an und schüttelte den Kopf. »Warum willst du dich unbedingt als ungeliebt empfinden? Barbara wünschte sich für dich die verlässliche Familie, die sie dir nie würde bieten können. Wenn eine deiner Freundinnen so gehandelt hätte, würdest du sie dafür bewundern.«
»Und was soll ich für dich empfinden?«
Jessie sah sie lange an und wog seine Worte. Schließlich seufzte er. »Nichts Gutes, fürchte ich. Ich wäre der letzte Mensch gewesen, den du gebraucht hättest. Säufer sind schlechte Väter.«
18
Ginger
Ginger stand vor Rachels Apartment und zögerte vor der Klingel. Sie wusste immer noch nicht genau, warum sie die I-80 statt der I-680 nach San José genommen hatte. Oder was sie geritten hatte, die Abfahrt nach Orinda zu nehmen, um ihre »Schwester« zu besuchen.
Offensichtlich Neugier, wie Jessie schon bei ihrem ersten Treffen gesagt hatte. Doch es war mehr als das. Jessie hatte ihr Fotos von seiner Familie gezeigt. Sie waren so verblasst und zerknittert gewesen, dass sie weder ihn als jungen Mann noch irgendeine Familienähnlichkeit in den Gesichtszügen der Leute entdecken konnte, die sie darauf anstarrten.
Vor einem Monat noch hatte sie ihren Familienbanden weniger Aufmerksamkeit geschenkt als ihrem Rentenkonto. Das, was sie zu wissen glaubte, hatte ihr völlig genügt. Doch jetzt verband sie ihre DNA mit völlig Fremden, ließ sie in jeder Minute darüber nachdenken und davon träumen.
Sie hatte tausend Fragen. Über das musikalische Talent beispielsweise. Konnte das vererbt werden? Wenn ja, hatte es offensichtlich eine Generation übersprungen. Sie konnte keinen Ton halten. Geschäftssinn? Offensichtlich war Jessie damit reich gesegnet. Er mochte ein paarmal Pleite gegangen sein, hatte sich aber immer wieder hochgerappelt. Ihr Konto war jedoch ständig überzogen. Wo also gab es eine Verbindung?
Ihre Schwestern vielleicht? Teilten sie Angewohnheiten, Sturheit und Gesten? Wenn ja, war das ererbt oder erworben?
Und welches Gen führte dazu, dass sie wie eine Bekloppte vor einer fremden Tür stand und sich nicht zum Klingeln entschließen konnte?
Ginger drückte auf den Knopf. Nur Sekunden später stand Rachel in der Tür. Erst guckte sie verärgert, dann verwundert. Erkennen und Neugier wechselten sich in ihrem Mienenspiel ab. »Ginger, oder?«
Ginger nickte.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Die Anwältin, Lucy Hargreaves, hat mir deine Adresse gegeben. Und dein Ehemann, wenn er das noch ist, gab mir dann die hier.«
»Warum bist du gekommen?«
Ginger dachte nach. »Um ehrlich zu sein, weiß ich das gar nicht so genau.«
Rachel fühlte sich hin und her gerissen. »Du kannst reinkommen, bis du es dir überlegt hast«, sagte sie schließlich.
Ginger folgte Rachel durch den Flur ins Wohnzimmer, das mit Sofa, Couchtisch und Lampe sehr sparsam eingerichtet war. »Ah, du bist für Minimalismus. Ich stehe mehr auf so eine Art kalkulierte Lässigkeit.«
Rachel setzte sich ans eine Ende des Sofas und deutete neben sich. »Die genaue Bezeichnung wäre wohl eher ›frühes Trennungsstadium‹.« Sie lächelte höflich. »Lässigkeit kenne ich auch, allerdings keine kalkulierte.«
»Das ist auch meine Erfindung. Damit kannst du jeden davon überzeugen, dass du dir eigentlich etwas viel Besseres leisten könntest. Auch wenn das nicht stimmt.«
»Damit habe ich die ersten fünf Jahre meiner Ehe zugebracht. Jeff und ich sind an den Sperrmülltagen immer durch die Nachbarschaft gezogen, um …« Rachel hielt inne und schüttelte den Kopf. Ihr Blick war gleichzeitig schmerzerfüllt und peinlich berührt. »Ich muss unbedingt damit aufhören.«
Worte und Benehmen sprachen Bände. Ginger hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was zwischen
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