Ein Haus für vier Schwestern
Gewissen mit Versprechen auf die Zukunft. Angesichts des Schmerzes auf Rachels Gesicht kamen ihr das ziemlich oberflächlich vor.
Fühlte sich Marcs Frau genauso? War das der Grund dafür, dass sich Judy dauernd in Marcs Leben drängt?
Warum machte sie das? Judy war nicht Rachel. Die Umstände unterschieden sich grundlegend. Und sie glich in keiner Weise der Frau, mit der Jeff seine Affäre gehabt hatte. Sie liebte Marc. Und er liebte sie.
»Ich weiß nicht, was ich machen würde«, sagte Ginger ziemlich erschüttert. »Aber ich weiß, dass ich mir alles sehr gut überlegen würde.«
Rachel nickte. Sie hob ihr Glas und brachte einen Toast aus. »Ich hätte das nie geglaubt, aber ich glaube, es gefällt mir, eine Schwester zu haben.«
Angerührt von Rachels unerwartetem Eingeständnis, stieß Ginger vorsichtig mit ihr an. »Mir auch.«
19
Lucy
»Wie geht es ihm?«, fragte Lucy und wechselte die kleine Reisetasche mit ihren Übernachtungssachen in die andere Hand.
Rhona hielt Lucy die Tür auf. »Ich habe bisher noch niemanden beim Sterben begleitet«, sagte sie. »Aber ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern wird. Er wacht nur noch kurz auf, für eine oder zwei Minuten, und schläft gleich wieder ein.«
»Ich wollte eigentlich früher kommen.«
Rhona legte ihre Hand auf Lucys Arm. »Sie müssen nichts erklären. Er weiß, was Sie für ihn empfinden. Ich ebenso.«
Diese Vertraulichkeit ließ Lucy fast die Fassung verlieren. Fast die gesamte letzte Woche hatte sie mit Jessie verbracht, hatte ihn beobachtet, gewartet, mit ihm gesprochen, wenn er reden konnte, und ruhig dagesessen, wenn er schlief. »Ich möchte bei ihm sein …« Sie konnte den Satz nicht beenden.
Rhona ging mit Lucy durch den Flur. An der Tür von Jessies Schlafzimmer hielt sie inne. »Mr Reed weiß nichts davon, aber Miss Reynolds war heute Vormittag hier.«
Lucy blieb stehen. »Ginger?«
»Sie ist ein paar Stunden geblieben, aber Jessie hat die ganze Zeit geschlafen. Es wird ihm bestimmt leidtun, dass er sie verpasst hat.«
»Hat sie gesagt, warum sie gekommen ist?«
Rhona schüttelte den Kopf. »Ich habe auch nicht nachgefragt.«
Lucy warf einen Blick auf Jessie. »Ich erzähle es ihm, wenn er aufwacht.«
»Brauchst du nicht«, sagte Jessie. Ohne die Augen zu öffnen, holte er mühsam Luft. »Ich hab alles gehört.«
»Brauchen Sie etwas gegen die Schmerzen?«, fragte Rhona.
Jessies Augen blieben geschlossen. »Nein, noch nicht. Ich möchte erst mit Lucy reden.«
Lucy gab Rhona ihre Tasche und ging zum Bett, bis Jessie ihre Gegenwart wahrnehmen konnte. »Da bin ich.«
Mit großer Anstrengung öffnete Jessie die Augen und sah sie an. Er musterte ihr Gesicht eindringlich, studierte jede Linie und Falte und lächelte dann. »Hab auf dich gewartet«, sagte er leise.
Sie hatte einen Kloß im Hals. »Warum?« Sie konnte nur flüstern.
»Es ist Zeit.«
Sie nickte und nahm seine Hand, legte ihre Finger in seine Handfläche. »Ich werde dich vermissen.«
Ein paar Sekunden sah er sie nur an. Seine Atmung wurde unregelmäßig.
»Ich wollte es nicht aussprechen, denn es macht keinen Sinn mehr.« Seine Hand umklammerte ihre Finger. »Ich habe es schon so oft gedacht. Deswegen muss ich es einmal laut sagen, solange ich noch kann. Ich liebe dich, Lucy. Hab dich immer geliebt. Und so wird es bleiben.«
Sie konnte nur noch mit erstickter Stimme flüstern. »Ich weiß. Ich liebe dich auch.«
»Bleibst du ein bisschen?«
Eine Träne schlüpfte zwischen ihren Wimpern hindurch und lief über ihre Wange. Sie drängte die nachfolgenden zurück. Eine weinende Lucy sollte nicht das Letzte sein, was er sah. »Ich bleibe.«
Er lächelte, zwinkerte ihr noch einmal zu und schloss die Augen. Binnen Sekunden schlief er wieder. Sein Atem ging flach und mühsam. Seine Hand lag locker in ihrer.
Lucy verlor jedes Zeitgefühl, wie sie so dastand und Jessie ansah. Sie wusste, dass er bis zum letzten Herzschlag durchhalten würde. Er konnte nicht einfach aufgeben, er wusste gar nicht, wie das ging.
Als die Sonne am Horizont versank, wich die Hitze des Tages einer kühlen Brise. Lucy bat Rhona, die Klimaanlage auszuschalten und die Fenster zu öffnen. Die Vorhänge bauschten sich im Luftzug, der den Geruch des Sommers mit sich brachte. Man hörte Kinder beim Spielen, junges Leben. Es wurde gegrillt. Ein Motorrad fuhr vorbei. Hungrige Vogelkinder verlangten nach Futter.
Jessie atmete.
Lucy lehnte sich in den Sessel neben seinem Bett und
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