Ein Haus für vier Schwestern
fünfundvierzig Minuten sollten sie in der Kanzlei sein. Wenn der Verkehr nicht zunahm, würden sie das locker schaffen.
»Das ist doch ganz gut, oder?«
»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn ich mehr rauslassen könnte.« Ginger sah Rachel an.
Rachel lachte und hob abwehrend die Hand. »Auf gar keinen Fall. Mir genügt meine gescheiterte Ehe.« Sie sah verdutzt drein. »Jetzt fange ich schon an, Witze darüber zu machen.«
Ginger wiederholte Rachels Fragen. »Das ist doch ganz gut, oder?«
»Es macht mir Angst. Solange ich wütend bin, tut’s nicht so weh.« Sie nahm eine Haarspange aus ihrer Handtasche, drehte ihre schulterlangen Haare zu einem Knoten zusammen und steckte ihn auf dem Kopf fest. »Genug von Jeff und mir. Erzähl mir von Marc. Wie geht es ihm denn mit allem, was dir in letzter Zeit so zugestoßen ist?«
»Er meint, ich sollte Kontakt mit der Familie meiner Mutter aufnehmen.« Die Antwort bot den perfekten Übergang zurück auf sicheres Gebiet. »Ich habe nach ihnen gesucht, nachdem ich mit Jessie über Barbara gesprochen hatte. Ihre Eltern sind von der Ostküste. Alter Geldadel. Die wären bestimmt nicht glücklich, wenn ich mit einem DNA-Test dort auftauche, der meine Abstammung nachweist. Der Rolling Stone brachte vor Jahren einen Artikel über Barbara, in dem stand, dass ihre Mutter total entsetzt darüber gewesen war, als sie von der Uni abging und sich einer Band anschloss. Dabei spielte es keine Rolle, dass es sich um normale Popmusik handelte und sie in den größten Konzertsälen auftrat. Es war einfach unter ihrer Würde.«
»Ob sie ihnen wohl von dir erzählt hat?«
»Glaube ich nicht. Wahrscheinlich hat sie so wenigen Leuten wie möglich davon erzählt. Ich bin nirgendwo auf den kleinsten Hinweis gestoßen, dass sie ein Kind haben könnte.«
»Wie hat sie das fertiggebracht?«
»Die offizielle Version ist, dass sie sich ein paar Monate zurückgezogen hatte, um die Songs für White Lies zu schreiben.«
»Die CD habe ich sogar«, sagte Rachel. »Jeff hat sie mir vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt.«
»Ich kenne ein paar von den Sachen, die sie aufgenommen hat, habe aber keine CDs von ihr.« Ginger hatte sich im Internet ein paar CDs angesehen, aber nichts gekauft, nachdem sie ihre Mutter auf dem Cover gesehen hatte. Sie war noch nicht so weit, sich mit Barbaras Musik auseinanderzusetzten. Ihr war klar, dass sie jedes einzelne Wort abwägen, nach verborgenen Botschaften suchen und sich womöglich Dinge einbilden würde, die gar nicht existierten.
»Und Jessie? Ist er irgendwo erwähnt?«
»Nicht im Zusammenhang mit ihr. Ein paar alte Artikel berichteten über einen seiner Filme. Und in letzter Zeit gab es einiges über seine Immobilien- und Grundstücksgeschäfte in Sacramento. Von Verbindungen zur Musikindustrie war nicht die Rede.«
»Warum sind damals zwei Frauen im besten Töchteralter mit ihm ins Bett gegangen? Was glaubst du?«
»Geld?« Für Ginger war das offensichtlich.
»Das mochte vielleicht auf meine Mutter zutreffen«, sagte Rachel. »Für deine hat es wahrscheinlich keine Rolle gespielt.«
»Vielleicht war es der Einfluss oder die Macht, die sie anzogen. Oder es war wirklich so, wie Jessie erzählt hat. Sie waren Freunde, sie hat ihm geholfen, als er deprimiert war, und dann führte eins zum anderen.«
Rachel stellte beide Füße auf den Boden und strich sich die Hose glatt. »Tja, was auch immer es gewesen ist – es hat funktioniert. Ich bin nur überrascht, dass es nicht noch mehr von uns gibt.«
»Das habe ich auch gerade gedacht.«
Ginger sah die Ausfahrt zur Tower Bridge und bog links ab. Fast tat es ihr leid, dass das ihre letzte Fahrt nach Sacramento sein würde.
Sie hatte gerade erst angefangen, die Stadt zu mögen, in der Jessie zu Hause gewesen war.
24
Lucy
Lucy wirbelte in einem Drehstuhl herum, kam vor ihrem Schreibtisch zum Halten und klopfte mit ihrem Federhalter auf Jessies Testament. Sie wartete. Zum einen wollte sie das Treffen mit seinen Töchtern hinter sich bringen, zum anderen musste sie geschickt jeden Vorteil nutzen, um zu erreichen, was sie wollte. Zuerst einmal wollte sie für eine Mischung aus Verwirrung und Überraschung sorgen. Mit ein bisschen Glück wären dann alle so abgelenkt, dass keine mehr auf dumme Gedanken kam. Sie fand es wichtig, etwaige Fragen zu verhindern, bei denen eins zum andern führen würde.
Die Viertelstunde Wartezeit, die sie eingeplant hatte, sollte Jessies
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