Ein Haus für vier Schwestern
Töchter irritieren, aber nicht verärgern. Rachel, die Geschäftsfrau, würde sicher die heftigste Reaktion zeigen, Christina am wenigsten aus sich herausgehen. Elizabeth war die große Unbekannte in dieser Gleichung, Ginger dagegen einfach auszurechnen. Da ihre Schönheit sie normalerweise vor negativen Reaktionen auf ihre Person bewahrte, hatte sie nicht genug Selbstbewusstsein, Autoritäten infrage zu stellen.
Lucy konnte nicht länger stillsitzen und ging zur Anrichte, um sich einen Kaffee einzuschenken. Das war an diesem Vormittag bereits der fünfte. So langsam verstand sie Jessies Sucht nach dem Adrenalin, das sein Leben am Limit mit sich gebracht hatte. Zwar war er nie so weit gegangen, wie sie es nun im Begriff war zu tun – zumindest nicht, soweit sie davon wusste. Aber er hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, Dinge zu tun, zu denen sie nie den Mut fand – zumindest bis zum heutigen Tag.
Er hatte sein Vermögen verzockt – sie riskierte ihre Zulassung als Anwältin. Von einer Strafverfolgung wegen Urkundenfälschung und vielleicht sogar wegen Betruges ganz abgesehen. Das würde vom Eifer des Bezirksstaatsanwalts abhängen, der den Fall bekam. Die Geschäfte der Kanzlei würden ziemlich in die Knie gehen. Aber wenn sie dann von der Bildfläche verschwunden wäre, könnte sie sich durchaus von dem Schlag erholen.
Sie ging ein verteufelt hohes Risiko ein. Der Gesetzesbruch war so offensichtlich, dass keine wie auch immer geartete Verteidigungsstrategie vor Gericht Erfolg haben würde.
Doch trotz der möglichen Konsequenzen kam ein Rückzieher für sie nicht mehr infrage, sobald sie sich entschieden hatte.
Sie trank ihren Kaffee und beobachtete durch das Fenster den Verkehr, der sich durch die Capital Mall drängte. Endlich war sie in der Lage, Jessie etwas zurückzugeben. Das fühlte sich gut an. Fast zu gut, angesichts der strafrechtlichen Folgen. Sie hob ihren Becher zu einem Gruß.
Auf dich, Jessie Patrick Reed.
25
Christina
Christina war zu spät dran. Sie hatte ihren Anschlussflug in L.A. verpasst, weil ihr Flugzeug eine Dreiviertelstunde auf dem Rollfeld stand, bis der Pilot die Startfreigabe bekam.
Trotzdem wäre sie wahrscheinlich noch pünktlich in der Kanzlei gewesen, hätte nicht ein Rollstuhlfahrer sich vorgedrängt und ihr das letzte Taxi vor der Nase weggeschnappt. Okay, ein Rollstuhl war schlimmer als ein verdrahteter Kiefer, aber seine Grobheit glich das aus. Gott sei Dank hatte niemand verstehen können, was sie dem Taxi hinterhergerufen hatte.
Trotz ihrer viertelstündigen Verspätung saßen ihre Schwestern überraschenderweise noch im Wartebereich. Sie hatte sich kaum gesetzt, als eine blonde Frau in einem Siebzigerjahre-Kleid erschien. Es schien allerdings eher ein Designerteil als vom Flohmarkt zu sein. »Miss Hargreaves ist jetzt bereit, Sie zu empfangen. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Ein kurzer Blick auf ihre Schwestern sagte Christina, dass sich diese mindestens so unbehaglich fühlten wie sie selbst. Sogar die spröde Elizabeth war der Einladung gefolgt. Offensichtlich hielten die Gründe, die sie gehindert hatten, ihren Vater zu treffen, sie nicht davon ab, an Jessies Testamentseröffnung teilzunehmen. Oder an der Veranstaltung, von der Christina zumindest annahm, dass es sich um die Testamentseröffnung handeln würde.
Lucy erhob sich zu ihrer Begrüßung und nickte allen Frauen zu. Sie deutete auf die vier Besuchersessel, die in einem Halbkreis vor ihrem Schreibtisch standen. Die »Zwillinge« Rachel und Ginger setzten sich nebeneinander, sodass Christina nur der Außenplatz neben Elizabeth blieb.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten, bevor wir anfangen?«, fragte Lucy. »Kaffee? Limonade? Wasser?«
Schweigen.
»Gut. Haben Sie Fragen? Sonst fange ich an.«
Erneutes Schweigen.
»Nun, dann lassen Sie uns beginnen.« Sie nahm das oberste Blatt Papier, das hellblau und ziemlich dick war.
Leider musste Christina auf die Frage verzichten, ob denn die Kanzlei für verstorbene weibliche Klienten Rosa nehmen würde. Vielleicht war es ganz gut, dass man ihr den Kiefer verdrahtet hatte.
Lucy sah sie über ihr Glas hinweg an. »Ich kann alles so vorlesen, wie es hier steht, oder die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Entscheiden Sie, bitte.«
»Ich möchte eine Zusammenfassung«, sagte Rachel. »Ich habe nachmittags eine Besprechung in der Stadt.«
»Und die anderen?«, frage Lucy.
»Zusammenfassen ist okay«, sagte Ginger.
Christina nickte.
»Bekommen wir
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