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Ein Haus in Italien

Ein Haus in Italien

Titel: Ein Haus in Italien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa St Aubin de Terán
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zernagte Kolben aus den Tagen der versteckten Getreidevorräte.
    Jeder, der zum Arbeiten ins Haus kam, hatte eine eigene Theorie darüber und konnte ein weiteres Anekdotensteinchen zum Puzzle seiner Geschichte beitragen, das kein rechtes Bild ergeben wollte. Schon bald hatten die Arbeiter mehr Besuch als wir. Die Leute kamen aus der ganzen Gegend, um sich Imolos Rekonstruktion der Villa anzusehen. Alle Neuankömmlinge machten in der gleichen Weise auf sich aufmerksam, indem sie vom Vorhof aus »Oh, Imolo!« jodelten.
    Jeder schien irgendwie Verbindung zur Villa zu haben, die il palazzo genannt wurde. Dutzende von Einheimischen waren in der großen Küche aufgewachsen, und so viele behaupteten, hier geboren oder mit so jemandem verwandt zu sein, daß mit der Zeit das Bild einer riesigen ländlichen Entbindungsstation Gestalt annahm. Der Direktor der Telefongesellschaft allerdings war tatsächlich hier geboren – es fanden sich viele Zeugen, die seinen Anspruch bestätigten –, und dem zu Ehren beförderte er uns auf der Warteliste für einen Telefonanschluß weit nach vorn.
    Der palazzo hatte seit dem letzten Krieg auch als Bauernhof gedient. Die Schäfer, die im ersten Stock Schafe gehalten hatten, kamen ebenso zu Besuch wie die Hirten, deren Schweine einmal im Erdgeschoß umhergelaufen waren, und wie jene, die im zweiten Stock Wachteln gepäppelt hatten. Andere, die nicht aussahen, als könnten sie Schaf und Schwein
auseinanderhalten, spazierten wehmütig umher. Sie waren, wie man mir sagte, früher hergekommen, um in der Weitläufigkeit des schwindelerregenden Dachbodens, in den die Luft durch vierzehn Fensteröffnungen drang, auf einem klumpigen Bett aus Fledermauskot mit jemandem zu schlafen.
    Imolo und die Arbeiter sprechen über die hiesige Vergangenheit, als sei sie mit Händen zu fassen. Sie schätzen sie, wie die besten wilden funghi wertgeschätzt und konserviert werden, um sie nach Belieben zu genießen. Sie horten ihre Erinnerungen, begutachten sie und schließen sie wieder weg. Es sind gemeinsame Erinnerungen, in der cantina eines jeden großen und kleinen Hauses mit den Weinfässern gelagert, und üblicherweise ist es auch der Wein, der sie hervorholt. Imolo erklärt, in diesem Teil Umbriens seien die Tage der Armut vorüber, aber man erinnere sich häufig daran. Der Tabak habe ihr Los verändert. Bis 1945 mußten die Männer der Gegend auswandern oder sechs Tage pro Woche als Tagelöhner, Köhler oder Holzfäller in den endlosen Wäldern arbeiten. Seine Familie, die bei einem der wenigen Gutsbesitzer der Gegend einen kümmerlichen Lebensunterhalt mit Landarbeit verdiente, gehörte noch zu den glücklicheren, deren Männer zu Hause wohnen konnten, und Frauen und Kinder halfen, die Ernte einzubringen.
    Auf dem Boden rundum wuchs nichts, was nicht auch in der angrenzenden Toskana – und zwar besser als hier – wuchs. Dann kam der Tabak, und seitdem herrschte ein Boom, der bis 1980 jeder Familie in San Orsola ein eigenes Haus, ein Stück Land und mindestens ein Auto bescherte. Der Wolf ist also weit entfernt, aber in ihrem Lebensgefühl ist er noch da und lauert im Garten, irgendwo zwischen Lilien und Kopfsalat.
    Die Alten haben alle krumme Rücken und knotige, vernarbte Hände. Viele tragen die schwarze und schwarzblaue Kleidung der Jahrhundertwende. Die alten Frauen tragen trotz der Hitze Kopftücher und dicke, faltige Wollstrümpfe. Sie sammeln ungeheure Reisigbündel, um Herd und Brotofen anzufeuern. Bei Morgengrauen und in der Abenddämmerung kann man sie mit diesen Bündeln auf dem Rücken am Straßenrand entlanghumpeln sehen, während ihre Enkel in ihren neuen Fiats vorbeibrausen. Diese Großeltern sind recht wohlhabend, auch wenn es nicht den Anschein hat, aber dieser Wohlstand kam zu spät, um ihre Lebensweise noch zu ändern. Sie leben im selben Haus wie ihre erwachsenen Kinder, vom Komfort und allen Errungenschaften der modernen Technik umgeben, aber sie halten an den vertrauten, rituellen Gebräuchen fest und arbeiten hart auf ihren eigenen Feldern und Weinbergen.
    San Orsola ist ein organisiertes Dorf, das von einer Gruppe einheimischer Männer und Frauen geführt wird, dem sogenannten proloco. Der proloco sammelt im Dorf Geld und finanziert damit Tanzvergnügen und Festessen, Picknicks, Konzerte und Feuerwerk. Die Frauen treffen sich meist reihum zu Hause. Die Teenager fahren in Auto- und Mopedkonvois von einer Disco zur nächsten, und die Männer treffen sich in einer der vier Bars

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