Ein Haus in Italien
blauviolette Windenblüte, die sich um die bröcklige schwarze Rinde des Pflaumenbaum-Wirtes schlang, erfüllte mich mit Freude. Ich liebe Winden, solange ich zurückdenken kann. Gesundheit und Glück sind für mich mit dem Wachsen und Gedeihen dieser südamerikanischen Kletterpflanzen verwoben. Ich wertete es als gutes Omen, daß zwei meiner Samen den Überlebenstest bestanden hatten, und empfand es als Geschenk, daß ich jeden Morgen vor die Tür treten und in meiner Wildnis eine blaue Wolke zarter Glocken sehen konnte.
Ich blickte auf die Tabakarbeiter, die sich am Fluß trafen, kaum daß die gefleckten Lerchen in Scharen aus den Feldern aufgestiegen waren. Die Arbeiter trugen ihre Uniform aus Lumpen, eine einmütige und freiwillige Rückkehr zu den Bräuchen der Vergangenheit auf dem Weg in die tägliche Schufterei auf den Feldern. Ich beobachtete, wie sie sich nach Familien aufteilten. Die einzigen Gründe, nicht in den Tabakfeldern zu arbeiten, waren Tod oder vollständige Lähmung. Kein anderes Gebrechen konnte die Achtzigjährigen davon abhalten, ihre Fetzen anzuziehen und sich über die tyrannische, breitblättrige Tabakpflanze zu bücken. Alte Frauen, der
Rücken fast im rechten Winkel gekrümmt durch Kyphose, die Hände knotig von Arthritis und die Augen trüb vom grauen Star, nahmen ihren Platz in den Reihen jener ein, die sich vor dem Herrn des Wohlstands beugten. Die langen Stunden unter der brennenden Sonne, das ständige Bücken und die nötige Konzentration – bei dieser arbeitsintensiven Feldfrucht steht und fällt die spätere Ernte mit dem kundigen Verlesen – ließen die Arbeiter vor Erschöpfung fast zusammenbrechen. Aber frühmorgens kamen sie voller Tatendrang und guter Laune, mit Scherzen und Geplänkel. Ihre Stimmen wehten nur als Geräusche den Berg zu mir hinauf, der Sinn der Worte blieb verschlossen im abgehackten Dorfdialekt, einer fremden Sprache, die durch Zypressen und Vogelgezwitscher zu mir drang.
10. Kapitel
M anchmal standen abends bis zu zehn Autos mit laufendem Motor und laut aufgedrehten Autoradios vor der Villa. Man konkurrierte darum, an diesem Abend das Kind Iseult befördern zu dürfen. Irgendwann nach dem Abendessen und dem Einbruch der Dunkelheit herrschten auf dem wagenübersäten Vorhof lautes Dröhnen, flackerndes Scheinwerferlicht und Gehupe. Hinter den Autos versuchten Vorreiter auf Mopeds ihr Glück. Die jungen Orsolani fuhren im Pulk. Freitag- und Samstagnacht blieben sie bis kurz vor Sonnenaufgang fort, an den anderen Abenden kamen sie früher. Welches Auto das Kind auch wählen mochte, immer brachten sie alle nach Hause.
Da wir im mittleren Teil des palazzo noch keinen Strom hatten, waren wir völlig auf Kerzen angewiesen. Das Kind Iseult hat (wie ich) im Dunkeln Angst und bestand daher darauf, von einem Schwarm junger Männer die gefährliche Treppe hinaufbegleitet zu werden. Die Mädchen des Ortes hatten vor dem Haus zuviel Angst, um auch nur die Autos zu verlassen. Das Kind bewahrte in der ersten Nische des Marmortreppenhauses eine Kerze auf, bei deren flackerndem Licht sie die breite, freitragende Treppe hinauf zu Bett ging. Ihre Stufen hatten kein Geländer, rechts und links stürzte man geradewegs ins Nichts. Das Schlafzimmer des Kindes war achtundvierzig Treppenstufen und vier Absätze entfernt. Die größte Herausforderung bestand allerdings darin, die drei fehlenden Stufen aufzuspüren, wo ein versäumter Sprung und
der folgende Sturz fast zwangsläufig den Tod bedeutet hätten. Am obersten Treppenabsatz lag ein Korridorabschnitt von mehreren Metern Länge, wo das fehlende Dach den Fußboden zum Einstürzen gebracht hatte. Nur durch vorsichtigstes Balancieren auf einem einigermaßen stabilen Träger kam man auf die andere Seite.
An der Türschwelle ihres improvisierten Schlafzimmers angekommen, pflegte das Kind Iseult mit einer gewissen Erbarmungslosigkeit sich und die Kerze zu verbarrikadieren. Ihre Begleiter waren dann auf eigene Kerzen und Taschenlampen angewiesen. Taschenlampen hatten im palazzo ein kurzes Leben. Wie Socken und Unterhosen in der wöchentlichen Wäsche, verschwanden auch sie spurlos und blieben auf ewig verschollen.
Eines Nachts, nachdem sie der ortsüblichen Sitte gefrönt hatte, mehrere Stunden lang bei laufendem Motor im Auto zu sitzen, Musik zu hören und sich wispernd über Leben, Kunst und Metaphysik zu unterhalten, wurde die Schar der Beschützer müde, kehrte um, fuhr nach Hause und ließ das Kind in der Obhut eines
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