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Ein Held unserer Zeit

Ein Held unserer Zeit

Titel: Ein Held unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Lermontow
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Süden erhob der Elbrus seine weißen Häupter und schloß die Kette eisbedeckter Berggipfel, zwischen denen flockige, aus dem Osten kommende Wolken hin- und herwogten.
     
    Ich trat an den Rand der Felsenplatte und blickte in die Tiefe hinunter: Fast hätte mich der Schwindel erfaßt. Dort unten im Abgrunde schien es finster und kalt wie im Grabe. Das spitzige Gestein, welches Zeit und Stürme dort aufgehäuft, schien seine Beute zu erwarten.
     
    Die Felsenplatte, auf welcher wir uns schlagen wollten, bildete beinah ein regelmäßiges Dreieck. An dem äußern Winkel maßen wir sechs Schritte ab und wir kamen überein, daß derjenige, der sich zuerst dem Feuer seines Gegners aussetzen müsse, sich, den Rücken dem Abgrunde zugewendet, in diesen Winkel stelle. Wenn er nicht getödtet werde, solle er mit seinem Gegner den Platz wechseln.
     
    Ich hatte mir vorgenommen, Gruschnitzki alle Vortheile zu lassen. Ich wollte ihn auf die Probe stellen. Vielleicht befand sich in seinem Herzen noch ein edler Funke – und dann würde sich Alles glücklich gelöst haben. Aber seine Eigenliebe und seine Charakterschwäche trugen den Sieg davon ... Ich wollte mir das volle Recht erwerben, ihn nicht zu schonen, wenn der Zufall mich begünstigen sollte. Wer hätte nicht schon in solcher Weise mit seinem Gewissen verhandelt?
     
    "Werfen Sie das Loos, Doctor," sagte der Hauptmann.
     
    Der Doctor nahm aus seiner Tasche eine Silbermünze und warf sie empor.
     
    "Rückseite!" schrie Gruschnitzki rasch, wie Jemand, der durch einen heftigen Stoß plötzlich wieder zum Bewußtsein gebracht wird.
     
    "Bild!" sagte ich.
     
    Das Geldstück rollte umher und fiel dann tönend hin. Wir Alle eilten darauf zu.
     
    "Das Glück bevorzugt Sie," sagte ich zu Gruschnitzki. "Sie schießen zuerst! Aber bedenken Sie wohl: Wenn Sie mich nicht tödten, ich werde Sie nicht fehlen – darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort."
     
    Er erröthete. Er schämte sich, einen wehrlosen Menschen zu ermorden. Ich sah ihn fest an. Einen Augenblick schien es mir, als wollte er sich mir zu Füßen werfen und mich um Vergebung bitten. Aber wie sollte er einen so feigen Plan eingestehen? ... Es blieb ihm nur noch ein Mittel übrig – in die Luft zu schießen! Ich war überzeugt, daß er wirklich in die Luft schießen wollte! Nur Eines konnte ihn davon abhalten: der Gedanke, daß ich eine Erneuerung des Kampfes fordern würde.
     
    "Es ist Zeit," murmelte mir der Doctor zu, indem er mich am Arme zog. "Wenn Sie jetzt nicht sagen, daß wir Ihren Plan kennen, ist Alles verloren. Sehen Sie, da wird schon geladen ... Wenn Sie nichts sagen, so werde ich ..."
     
    "Um keinen Preis, Doctor!" sagte ich, ihn am Arm zurückhaltend. "Sie würden Alles verderben, und Sie haben mir versprochen, sich nicht einzumischen ... Wer weiß ... vielleicht will ich mich tödten lassen."
     
    Er sah mich erstaunt an.
     
    "Ah, das ist etwas Anderes! ... Nur machen Sie mir in jener Welt keine Vorwürfe ..."
     
    Der Hauptmann hatte inzwischen seine Pistolen geladen. Die eine gab er Gruschnitzki, indem er ihm lächelnd etwas zuflüsterte; die andere reichte er mir. Ich stellte mich am Rande der Felsenplatte auf, stützte mich kräftig mit dem einen Knie gegen einen Stein und neigte den Körper etwas vor, um, wenn ich nur leicht verwundet werden sollte, nicht hinten überzufallen. 
     
     
     
    Gruschnitzki stellte sich mir gegenüber auf und erhob auf das gegebene Zeichen seine Pistole. Seine Knie bebten. Er zielte mir gerade nach der Stirn ... Eine unaussprechliche Wuth kochte in meiner Brust. Plötzlich senkte er seine Waffe. Er war weiß wie Schnee und wandte sich seinem Secundanten zu.
     
    "Ich kann nicht," sagte er mit dumpfer Stimme.
     
    "Memme!" antwortete der Hauptmann.
     
    Der Schuß fiel. Die Kugel streifte mir das Knie. Ich that unwillkürlich einige Schritt nach vorn, um mich so schnell wie möglich vom Rande des Abgrundes zu entfernen.
     
    "Schade, Freund Gruschnitzki, daß du vorbeigeschossen!" sagte der Hauptmann. "Jetzt ist an dir die Reihe, dich dort aufzustellen! Umarme mich erst, denn wir werden uns nicht wiedersehen!"
     
    Sie umarmten sich; der Hauptmann konnte sich kaum enthalten in Lachen auszubrechen.
     
    "Fürchte dich nicht," setzte er, Gruschnitzki mit einem schlauen Blicke ansehend, hinzu. "Es ist Alles dummes Zeug in dieser Welt ... Die Natur ist eine Närrin, das Schicksal eine Truthenne, und das Leben eine Kopeke!" 1
     
    Nach dieser philosophischen Sentenz,

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