Ein Herz bricht selten allein
hielt ihm das Glas hin, und er füllte es bereitwillig.
»Schmeckt Ihnen mein Wein? Ich
mache ihn selbst. Ich besitze ein kleines podere bei Lucca, das heißt, es
gehört eigentlich meinen Kindern. Mein Vater hat es ihnen gekauft. Sie wissen
doch, daß ich zwei Kinder habe?«
»Ja, ich habe es mir
zusammengereimt. Aus Adrianas Erzählung.«
»Sie wissen vielleicht, daß ich
Witwer bin«, sagte er. »Ich erwarte eine junge Dame aus Genf. Bekannte wollen
sie mit dem Wagen hierherbringen. Ich brauche jemanden, der für die Kinder
sorgt. Adriana ist nicht die Richtige dafür.«
Bettina hörte Seggelins Stimme
ganz fern. Sie war schläfrig und gähnte verstohlen hinter der Hand. Sie hatte
zu rasch und zu viel getrunken.
»Sie sind müde. Ich bringe Sie
in Ihr Hotel. Wo sind Sie abgestiegen?« fragte er.
»Nirgends.«
Seggelins nahezu erloschene
Pfeife glimmte erneut auf. Er dachte angestrengt nach. Schließlich meinte er:
»Adriana hat das Gästezimmer für Fräulein Bartisse hergerichtet. Aber nachdem
sie nicht erschienen ist... Wo haben Sie Ihr Gepäck?«
»Auf dem Bahnhof.« Bettinas
Augen leuchteten.
»Das könnte ich holen.«
»Das wäre reizend von Ihnen.«
Er legte die Pfeife weg und
stand auf. »Man sollte Sie wirklich nicht allein in der Welt herumreisen
lassen«, sagte er, ergriff ihre Hände und zog sie aus dem Schaukelstuhl hoch in
seine Arme. Sie hielten sich umschlungen, Seggelin küßte sie stürmisch. Aber in
diesem Augenblick klingelte es, und dann wurde es lebhaft in der Wohnung.
Seggelin, der Bettina umfangen
hielt, murmelte: »Das ist Fräulein Bartisse. In letzter Sekunde. Kinder und
Narren haben eben einen Schutzengel.« Er strich Bettina zärtlich über das Haar.
»Du bist das Kind, ich der Narr.«
Dann knipste er einen der
beiden Kandelaber an. Das Licht flutete über die Terrasse, und in den hellen
Schein trat Adriana mit einem blonden, sehr gut angezogenen Mädchen.
»Je suis Hélène Bartisse«,
sagte sie und schickte einen Blick ihrer hübschen braunen Augen zu Seggelin.
»Ich muß mich entschuldigen, wir hatten eine Panne.«
Er ging zu ihr hin und reichte
ihr die Hand. »Ich freue mich, daß Sie dennoch angekommen sind.« Er stellte
Bettina und Fräulein Bartisse einander vor. »Adriana wird Ihnen Ihr Zimmer
zeigen. Sie entschuldigen mich bitte für heute. Wir sind eben im Aufbrechen.«
Dann, Bettinas Arm leicht berührend, sagte er: »Ich bringe Sie in Ihr Hotel.
Ich werde gleich telefonieren, wo Sie gut unterkommen.«
Bettina war um jeden Schluck
Wein froh, den sie getrunken hatte. Sie fühlte sich gelöst, beinahe heiter.
Während sie mit Hélène Bartisse nichtssagende Worte über die Fahrt von Genf,
über die Panne und über das wunderbare Wetter wechselte, hörte sie Seggelin mit
einem Hotel telefonieren und ein Zimmer mit Bad bestellen.
Kurz darauf saß sie neben ihm
in seinem Auto, und diesmal war es nicht mehr der schwarze Gangsterwagen,
sondern ein Luxusschlitten. Bettina erlebte die Fahrt wie durch eine
besänftigende Nebelwand.
Schließlich fand sie sich in
einer Hotelhalle wieder, sie reichte Herrn Seggelin formell die Hand, sie
lächelte, unterdrückte den jäh aufkommenden Wunsch, Hélène Bartisse möge sich
in diesem Augenblick zu unvorsichtig über das Geländer von Seggelins Terrasse
beugen und in die Tiefe stürzen, und vernahm, wie Herr Seggelin ihr alles Glück
auf Erden, vor allem alles Glück für ihre Heimkehr zu Mann und Kind wünschte.
Auch jetzt lächelte sie noch, etwas steif, so als sei ihr Mund vom Zahnarzt
vereist worden, und kurz darauf stand sie schon in einem feudalen Zimmer mit
Mahagoni, mit faustdickem Fußbodenbelag und Prismengläsern. Jetzt erst taute
das eingefrorene Lächeln auf, es zerlief in Tränen, Tränen des Zorns und der
Enttäuschung. Das Schicksal hatte sie genarrt.
Sie hätte diesen Schweizer
Querkopf lieben können, wenn sich nicht alles gegen sie verschworen hätte. Die
aus Genf angereiste Dame, unverheiratet, kinderbetreuend, das blonde Haar nicht
künstlich verfärbt, in klaren Verhältnissen lebend, adrett innerlich und
äußerlich, dieses wunderbare Wesen, eine erstrebenswerte Zweitmutter für Herrn
Seggelins Kinder, würde das Rennen machen. Nicht zu vergessen, daß sie
wahrscheinlich auch keinen Bruder hatte, der stahl. Die Tränen flössen.
Als Bettina ihr Taschentuch aus
der braunen Wildledertasche holte, stieß sie auf einen Umschlag mit der
Aufschrift >Gute Nacht und gute Heimfahrt«. Der Inhalt reichte, um das
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