Ein Herzschlag bis zum Tod
Haus und schob mich durch die schwere Eichentür und über den blank polierten Boden der Eingangshalle.
Rasch schaltete er eine Alarmanlage aus und eilte den Flur entlang. Holte eine schwarze Tasche aus einem Wandschrank und betrat ein Zimmer. Ich folgte ihm zaghaft. Es war ein Kinderzimmer: Etagenbett aus Eichenholz mit passendem Kleiderschrank, Schreibtisch, Stuhl, Schaukelstuhl und Spielzeugkiste. Ansonsten war das Zimmer kahl. An einer Wand stapelten sich Umzugskartons, die noch zugeklebt waren. Dumond riss vier oder fünf von ihnen auf, wühlte schweigend darin herum, schnappte sich einen Teddybären, einen Spielzeuglaster und einige Actionfiguren und stopfte sie in die Tasche. Ich sagte nichts, wagte kaum zu atmen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Dies hier war Pauls Kindheit, in Kartons verpackt, sorgsam in ein neues Zimmer transportiert. Sie wartete auf einen Jungen, der die letzten fünf Monate allein in einem winzigen Raum verbracht hatte.
Dann war Dumond auch schon fertig. Vom Flur aus führten ein paar Stufen zu einer Art Loft. Ich wartete auf der Treppe, und er tauchte wenige Minuten später mit einer ledernen Reisetasche wieder auf.
»Gehen wir«, sagte er.
Unsere Absätze klapperten auf dem blanken Marmor, als wir schweigend durch den Flur gingen, das Haus verließen und in den Mercedes stiegen.
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»Spricht er Englisch?«
»Was?«, fragte ich verblüfft. Die erste halbe Stunde waren wir schweigend gefahren. Er konnte nicht wissen, ob ich die Wahrheit sagte. Falls er unschuldig war, wollte er sich vermutlich keine zu großen Hoffnungen machen, dass er seinen Sohn bald wiedersehen würde. War er hingegen schuldig, überlegte er sicher, wie er mich am besten loswerden könnte. Über die zweite Möglichkeit dachte ich lieber nicht nach. Mir kam es vor, als wäre ich in einem Film, dessen Drehbuch ich nicht kannte. Steckte er hinter der Entführung? Hoffentlich nicht. War es richtig, ihn zu Paul zu bringen? Hoffentlich ja. War ich in Gefahr? Keine Ahnung. Die Polizei in Ottawa wusste, dass er mit mir unterwegs war und wohin wir fuhren. Dennoch würde dieser Mann mir den kleinen Jungen wegnehmen, so oder so.
Er verzog das Gesicht. »Der Junge, bei dem es sich angeblich um Paul handelt.«
»Nein. Jedenfalls nicht viel. Kann Ihr Sohn …?«
»Er kann ein bisschen Englisch, doch bei uns zu Hause wurde Französisch gesprochen.« Ich wusste, dass an den meisten Schulen in Québec Englisch erst ab der dritten Klasse unterrichtet wird. Das erscheint mir ein bisschen kleinlich in einem Land, das offiziell zweisprachig ist.
Dann herrschte wieder Schweigen.
»Ist er gesund?«, fragte er schließlich.
»Es scheint ihm gut zu gehen. Eine befreundete Krankenschwester hat ihn untersucht.«
|78| Wieder fuhren wir schweigend dahin. Als wir an einer Ausfahrt vorbeischossen, sah ich von weitem das vertraute McDonald’s-Logo. Mir knurrte der Magen. Ich hatte eine Packung Erdnussbutter-Cracker dabei, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, in diesem Wagen mit den makellosen Ledersitzen damit rumzukrümeln.
Er fuhr sicher, schaute regelmäßig in den Rückspiegel und wechselte geschickt die Spur. Es dauerte mindestens eine Viertelstunde, bis er wieder etwas sagte.
»Wie haben Sie mich gefunden?« Wenn er nicht wütend war, sprach er vollkommen akzentfrei Englisch. Es gibt viele Kanadier, die beide Sprachen fließend beherrschen, vor allem wenn sie in Québec wohnen und ständig mit beiden zu tun haben.
»Paul hat mir gesagt, wie Sie heißen, und dann habe ich im Internet gesucht, bis ich Ihre Firma gefunden hatte. Ich meine, ich habe jedenfalls angenommen, dass es sich um Ihre Firma handelt.«
»Sie wohnen in Lake Placid?«
»Ja.« Und weil es mir lieber war, banales Zeug zu reden als den Rest der Fahrt wieder zu schweigen, erzählte ich ihm, wo ich aufgewachsen und zur Schule gegangen war, dass ich für eine Zeitung gearbeitet hatte und was ich jetzt beruflich machte. Normalerweise rede ich nicht so viel, musste die Stille aber irgendwie füllen. Er stellte keine Fragen. Ich auch nicht.
Plötzlich fiel mir Baker ein – ich musste ihr Bescheid geben, dass wir unterwegs waren. Ich wollte nicht mit Dumond blöde im Auto herumsitzen, falls sie nicht zu Hause war. Außerdem schuldete ich ihr eine Warnung:
Hey, Bake, ich komme gleich mit Pauls Vater, der hoffentlich nichts mit der Entführung zu tun hat, bei dir vorbei.
Ich holte mein Handy heraus. »Ich sollte Baker anrufen und ihr
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