Ein Herzschlag bis zum Tod
dass ich sein Aftershave riechen und die kleinen Poren in seinem Gesicht erkennen konnte. Der Zorn, den er verströmte, war beinahe greifbar. Er stieß die Worte langsam und rau hervor, beinahe im Flüsterton: »Sagen Sie mir, wo mein Sohn ist.«
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Einen grauenvollen Moment lang fürchtete ich, ohnmächtig zu werden oder womöglich sogar im makellosen Büro dieses Mannes das Zeitliche zu segnen. Mir war, als könnte ich keinen Laut hervorbringen, doch mir muss irgendein Krächzen gelungen sein, und er begriff, dass er dabei war, mich zu erwürgen.
Er ließ mich los, drehte sich um und stützte sich auf den Schreibtisch, wobei er mir den Rücken zukehrte. Er atmete schwer. Ich lehnte mich an die Wand, rieb mir die Kehle und holte tief Luft – Luft, so viel ich wollte. Man betrachtet das Atmen so lange als selbstverständlich, wie man nicht daran gehindert wird. In meinen Ohren klingelte es. Es erinnerte mich an das Auftauchen mit Paul, nachdem ich in den Lake Champlain gesprungen war.
Als er sich umdrehte, war er wieder ganz der kühle Geschäftsmann, beherrscht, mit ordentlicher Frisur. »Falls Sie meinem Sohn etwas angetan haben, bringe ich Sie um«, erklärte er geradezu freundlich. »Und falls das ein Scherz ist, bringe ich Sie vermutlich auch um.«
Wir sahen einander lange an. Ob schuldig oder nicht, sein Verhalten überraschte und erschreckte mich.
»Könnte ich ein Glas Wasser haben?« Er machte eine kurze, heftige Bewegung, beherrschte sich aber. Dann deutete er auf einen schicken Wasserkühler, der in der Ecke stand. Ich wankte unsicher hinüber, füllte einen Becher, ohne mich um Keime zu scheren, und trank. Dann stellte ich den Becher behutsam ab und wandte mich wieder zu ihm. Er schaute mich unverwandt an.
|70| Da wurde mir klar, wie unglaublich naiv mein Plan gewesen war. Als könnte ich bei einem Fremden Bosheit oder tiefe Qual auf den ersten Blick erkennen. Entweder war Dumond für den Tod seiner Frau und beinahe auch für den Tod seines Sohnes verantwortlich oder aber er hatte eine erschütternde Tragödie erlebt. Und ich hatte keine Ahnung, was davon zutraf.
Die Zeit verrann. Ich zwang mich, ruhig zu atmen. »Okay«, sagte ich. »Ich habe einen Jungen gefunden, bei dem es sich um Ihren Sohn handeln könnte.«
»Lassen Sie mich raten«, erwiderte er mit einem hämischen Grinsen. Zum ersten Mal schwang in seiner Stimme ein französischer Akzent mit. »Sie brauchen eine kleine Anzahlung in bar, um sich daran zu erinnern, wo mein Sohn ist. Dafür bekomme ich vielleicht einen kleinen Hinweis, aber damit Sie sich genau erinnern, muss ich noch mehr bezahlen, was?« Er bebte vor Wut.
»Nein, nein, nein«, erwiderte ich. »Sie verstehen mich falsch.« Wieder zitterte meine Stimme. Ich hatte jahrelang nicht geweint – jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit –, und nun drehte ich zum dritten Mal in nur zwei Tagen den Wasserhahn auf.
Er hielt einen Moment inne, obwohl er mit seiner Tirade längst noch nicht fertig war, und deutete abrupt auf einen Stuhl. In diesem Augenblick erkannte ich noch etwas anderes außer seinem Zorn: eine aufflackernde Verzweiflung, eine tiefe Traurigkeit.
Argwöhnisch ließ ich mich in einem Ledersessel nieder. Ich dachte an den kleinen Jungen, der mir vertraute und auf mich wartete. Der Eltern brauchte, die ihn liebten.
»Ich habe einen Jungen gefunden, den ich für Ihren Sohn halte. Aber bevor ich Ihnen sage, wo er ist« – ich hob die Hand, als er eine Bewegung machte –, »muss ich wissen, was passiert ist.«
Er starrte mich an. »Wie meinen Sie das?«
|71| »Wie es passiert ist. Wie Paul verschwunden ist.« Meine Stimme wurde lauter. »Wieso nichts in den Zeitungen gestanden hat. Und wieso Sie hier sind und nicht in Montreal.«
Er schaute mich an, schien abzuwägen, ob es vorteilhafter sei, mir entgegenzukommen und seine Geschichte preiszugeben. Dann schließlich lehnte er sich gegen den Schreibtisch und begann mit ausdrucksloser Miene zu erzählen.
Eines Nachmittags sei er von der Arbeit nach Hause gekommen und habe festgestellt, dass seine Frau und sein Kind samt Auto verschwunden waren. Madeleine habe eine kurze Notiz hinterlassen, dass sie in Urlaub gefahren seien. Sie habe öfter einmal Kurzurlaube eingelegt, vor allem im Winter, Paul zuvor aber nie mitgenommen. Das Kindermädchen habe frei gehabt, und er habe an eine spontane Reise geglaubt. Kleidung, Schmuckstücke und ihr Laptop seien ebenfalls nicht mehr da gewesen. Daraufhin habe er
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