Ein Herzschlag bis zum Tod
bedeuten.«
»Und seine Mutter?«, fragte er beiläufig.
Meine Kehle wurde eng. Musste ich diesem Mann etwa erzählen, dass sein Sohn gehört hatte, wie man seine Mutter erschoss? Ich hätte gern gelogen und gesagt, ich wisse es nicht, bin aber eine sehr schlechte Lügnerin. Außerdem musste er es |74| erfahren. »Paul sagt … Paul sagt, sie sei kurz nach der Entführung erschossen worden.«
Dumond zog nur die Augenbrauen hoch. »Er hat es gesehen?«
»Nein«, flüsterte ich, »aber gehört.«
Er stand unvermittelt auf. Ich mochte verrückt oder kriminell sein oder ihm einen furchtbaren Streich spielen, aber er war zu einer Entscheidung gelangt. Er würde zu dem Jungen fahren – und zwar jetzt. Wir würden in seinem Wagen nach New York fahren und meinen in der Tiefgarage der Firma abstellen. Er hatte nicht vor, mich aus den Augen zu lassen.
»Wollen Sie nicht die Polizei verständigen?«
»Später. Zuerst muss ich den Jungen sehen.«
Drei Stunden mit Pauls Vater im Auto zu verbringen, stand nicht im Drehbuch. Allerdings konnte ich ihn verstehen: Er wollte nicht riskieren, dass ich mich aus dem Staub machte. Und letztlich hatte ich entschieden, ihm von Paul zu erzählen.
»Na schön«, sagte ich nach einiger Überlegung. »Aber Sie müssen die Polizei benachrichtigen und ihnen sagen, dass ich Ihren Sohn gefunden habe und dass wir jetzt zu ihm fahren.«
Wir schauten einander an. In diesem Punkt würde ich nicht nachgeben. Ich wusste nur zu gut, dass ich möglicherweise eine falsche Entscheidung getroffen und mich einem Mann anvertraut hatte, der Frau und Kind hatte ermorden wollen. Entschlossen griff er zum Telefon. Als er eine Nummer eintippte, die er von seinem Handy ablas, sah ich den Ehering an seiner Hand. Er drückte den Lautsprecherknopf an der Telefonanlage, und ich hörte, wie eine Mailbox ansprang.
Dumond schob mir Papier und Stift hin und deutete darauf. »Hier spricht Philippe Dumond. Wir haben über die Entführung meines Sohnes gesprochen, letzten Winter in Montreal. Ich habe hier eine junge Frau namens« – jetzt begriff ich, was er von mir wollte, und kritzelte meinen Namen hin – »Troy Chance aus Lake Placid, New York, bei mir. Sie behauptet, sie |75| habe meinen Sohn vorgestern an der Fährstation in Port Kent im Staat New York gefunden. Wir fahren jetzt dorthin, damit ich mich davon überzeugen kann, dass es sich wirklich um meinen Sohn handelt.« Er nannte noch seine Handynummer und hängte ein.
Ich folgte ihm, als er raschen Schrittes zu seiner Sekretärin ging und kurz mit ihr sprach. Dann musste ich ihn zu meinem Wagen führen, wo er ungeduldig wartete, während ich Landkarte, Wasserflasche und andere Kleinigkeiten von der Beifahrerseite räumte. Mir war nie aufgefallen, wie viel Zeug ich im Auto mitschleppe. Er lotste mich in die Tiefgarage und wartete, während ich meine Sachen zusammensuchte. Als ich im Handschuhfach nach Ausweis und Handy wühlte, schob ich unauffällig das Aufnahmegerät hinein. Sollte das Schlimmste passieren, würde man wenigstens die Aufzeichnung unseres Gesprächs finden. Wie bei der Lehrerin aus New Jersey, die vor Jahren die Gespräche mit ihrem jugendlichen Entführer aufgezeichnet hatte, in denen sie ihn geduldig, aber vergeblich hatte überreden wollen, sie am Leben zu lassen.
Er schob mich zu einem schwarzen Mercedes. Ich ließ mich linkisch auf dem Ledersitz nieder und schnallte mich an.
»Was ist mit …«
»Was?«, fragte er in scharfem Ton und setzte zurück.
»Ich dachte, vielleicht … sollten Sie nicht etwas von Paul mitnehmen? Ich meine, er war doch so lange weg. Hat er ein Lieblingsspielzeug, einen Teddybären oder so?«
Er schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Aber ich dachte daran, dass Paul gesagt hatte, sein Vater wolle ihn nicht. Womöglich hatten ihm die Entführer das eingeredet, oder er war selbst zu diesem Schluss gelangt, weil ihn sein Vater nicht gerettet hatte. Dennoch konnte es nicht schaden, wenn man eine greifbare Erinnerung an glücklichere Zeiten mitnahm.
Wieder traf er eine schnelle Entscheidung. Wir fuhren aus |76| dem Stadtzentrum hinaus in eine elegante Wohngegend mit gewundenen Straßen und prachtvollen Anwesen, bei denen es sich um Botschaftsgebäude, aber auch um Privathäuser handelte.
Wir hielten vor einem eindrucksvollen Haus im Tudor-Stil, das hinter einem hohen schmiedeeisernen Zaun und einer Hecke lag. Als er einen Knopf im Auto drückte, schwang das Tor auf. Er parkte vor dem
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