Ein Herzschlag bis zum Tod
arme Ritter und tranken frisch gemahlenen Kaffee, der – welch Wunder! – sehr viel besser schmeckte als die Brühe, die ich mit meiner Küchentuch-Filtermethode aufschütte. Ich hatte Luxus immer verachtet, erkannte aber allmählich die Vorteile.
Die Realität holte uns ein, als Paul darauf bestand, seine alten Sachen zu tragen. Er quetschte sich in ein enges Poloshirt mit langen Ärmeln und eine Jeans, bei der sich der Knopf kaum schließen ließ. Elise rief mich in sein Zimmer, und wir redeten ihm beide gut zu. Paul war mürrisch und rebellisch. Ich kniete mich hin und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Paul«, sagte ich und schaute ihm in die Augen, »das sind schöne Sachen. Aber ich glaube, dein Papa wäre traurig, wenn du nicht die neuen Kleider anziehst.« Ich wiederholte es so gut ich konnte auf Französisch.
Er wirkte unentschlossen und zappelte herum. Vermutlich schnürte die enge Jeans ihm das Blut ab. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Neue Hose, gleiches Hemd?«
Ich nickte. »Das ist eine sehr gute Idee.« Ich reichte ihm eine neue Jeans. Elise und ich gingen diskret hinaus, während er sich aus der alten Hose schälte.
Dumond warf einen Blick auf das zu kleine Hemd, aus dem Pauls schmale Handgelenke hervorlugten, griff aber nur in den |119| Garderobenschrank und holte eine dünne Jacke heraus. »Hol deine Jacke, Paul«, sagte er sachlich, und der Junge rannte in sein Zimmer, um die neue Windjacke zu holen. Dumond zwinkerte mir zu und legte Elise die Hand auf den Rücken, wobei er ihr etwas ins Ohr flüsterte.
Im überfüllten Wartezimmer las ich alte Ausgaben des
Ottawa Magazine
, aus denen ich mehr über Menschen aus Ottawa erfuhr, als ich jemals hatte wissen wollen: Dan Aykroyd, Mike Myers, Alanis Morissette.
Ich bemühte mich sehr, meine Angst zu unterdrücken: dass Paul sexuell missbraucht worden war, dass ihn die Entführer deswegen so lange behalten hatten. Ich glaube, das befürchteten wir alle. Ich war so verzweifelt, dass ich sogar beinahe zu einer
Marie Claire
gegriffen hätte. Da tauchten die beiden wieder auf. Dumond hatte den Arm um Pauls Schultern gelegt, und der Junge lutschte hingebungsvoll an einem Lolli. »Alles bestens«, sagte Dumond. Als Paul in den Aufzug trat, drückte Dumond leicht meine Schulter und sprach die zwei magischen Worte in mein Ohr:
kein Missbrauch.
In meinem Gesicht muss sich meine ungeheure Erleichterung gespiegelt haben. Mit so viel Rücksicht und Mitgefühl hatte ich bei Dumond nicht gerechnet, wieder eins meiner Vorurteile. Wenn jemand wohlhabend, attraktiv und erfolgreich ist, kann er in meinen Augen kein netter Mensch sein. Ich schämte mich nicht zu knapp.
Als wir zur Polizeiwache fuhren, verkrampfte sich mein Magen wieder. Nun musste ich offiziell erklären, weshalb ich mit Paul nicht sofort zu den Behörden gegangen war.
Er schaute hoch, als wir in die Tiefgarage fuhren. Dumond schaltete den Motor aus und drehte sich zu ihm um. »Paul, wir reden jetzt mit der Polizei, damit sie die bösen Männer fangen kann, die dich mitgenommen haben«, sagte er.
Paul blickte ausdruckslos, seine Version der drei Affen. Wenn Dinge geschehen, die man nicht versteht oder lieber |120| verdrängen möchte, macht man einfach dicht. Es mag nicht die beste Methode sein, aber sie funktioniert. Ganz plötzlich wurde mir klar, dass das Theater mit seinen Anziehsachen am Morgen die normalste Reaktion eines Sechsjährigen gewesen war, die ich bis jetzt bei ihm erlebt hatte.
»Alles in Ordnung, Paul«, sagte ich. »Niemand wird dir hier etwas tun. Dein Papa ist die ganze Zeit dabei.«
Paul schaute mich unbehaglich an. Dumond lachte gezwungen. »Ja, die Polizisten werden sehr nett sein. Und wenn nicht, brülle ich wie ein Tiger.
Grrrrrr!
« Pauls Lippen zuckten. »Und ich bleibe bei dir.« Mit diesen Worten öffnete er die Autotür.
Mein Gott, wir müssen ganz schön improvisieren, dachte ich, als wir hineingingen. Paul hielt unsere Hände fest umklammert. Er vertraute uns, hatte aber noch immer Angst, wie ein Hund, den man aus dem Tierheim gerettet hat. Wann immer wir mit ihm einen unbekannten Ort aufsuchten, fürchtete er wohl, wieder in seinem Gefängnis zu landen.
Am Empfang erkundigte sich Dumond nach dem Ermittler, mit dem er am Telefon gesprochen hatte.
»Worum geht es, Sir?«, fragte die Polizistin, eine schlanke schwarze Frau mit deutlicher britischer Aussprache, die eine tadellose blaue Uniform trug. Es gefällt mir, dass sich in Ottawa die
Weitere Kostenlose Bücher