Ein Herzschlag bis zum Tod
müssen, dass sie mich verdächtigten. Sicher, ich hatte erwartet, dass man mich tadeln würde, weil ich nicht sofort zur Polizei gegangen war. Ich hatte mir vorgestellt, dass mich die Polizei in New York deshalb anklagen könnte. Aber nicht so etwas. Ich hatte mir furchtbare Dinge ausgemalt, die Dumond getan haben könnte; doch war es ein Schock für mich, dass man mich ähnlich finsterer Dinge verdächtigen konnte. Ausgerechnet mich, deren schlimmstes Verbrechen darin besteht, bei Rot über die Straße zu gehen und ungestempelte Briefmarken noch einmal zu benutzen.
Die Ermittler waren sehr viel höflicher als im Fernsehen bei
NYPD Blue
– hier schrie keiner oder hämmerte auf den Tisch oder stieß Drohungen aus –, aber sie waren gründlich. Und anstrengend. Wenn man eine Frage oft genug stellt, werden es die Menschen anscheinend leid und sagen die Wahrheit: Haben Sie die Bank ausgeraubt?
Nein.
Haben Sie die Bank ausgeraubt?
Nein.
Haben Sie die Bank ausgeraubt?
Na gut, ich war’s.
Sie stellten immer wieder die gleichen Fragen, vor allem wegen meines Sprungs von der Fähre.
Sie sind von der Fähre gesprungen?
Ja, ich bin von der Fähre gesprungen.
Weshalb sind Sie von der Fähre gesprungen?
Weil ich gesehen habe, wie Paul ins Wasser fiel.
Wie kam es, dass Paul ins Wasser fiel?
Anscheinend hat ihn jemand hineingeworfen.
Sie sind von der Fähre gesprungen?
Natürlich wollten sie wissen, weshalb ich nicht sofort zur Polizei gegangen war. Darauf gab es keine einfache Antwort, und ich hatte nicht vor, ihnen traurige Geschichten von missbrauchten Kindern oder Pflegeheimen zu erzählen. Wir |124| waren ja nicht bei Oprah Winfrey. Also blieb ich bei den Fakten.
Ich war müde. Uns war kalt, wir waren nass. Ich wollte nach Hause.
Ich wollte, dass Paul es warm und trocken hatte, bevor wir zur Polizei gingen.
Ich dachte, es wäre besser, zuerst seinen Vater zu suchen.
Sobald ich seinen Vater gefunden hatte, bin ich hingefahren.
Ich habe seinen Vater nicht angerufen, weil ich Angst hatte,er würde mir nicht glauben.
Und so erzählte ich meine Geschichte wieder und wieder. Die Polizisten notierten sich die Fahrpläne der Fähren, Namen und Telefonnummern. Sie fragten, ob ich Leistungsschwimmerin sei, worauf ich beinahe laut gelacht hätte. Sie waren höflich, schienen es aber für unmöglich zu halten, dass jemand so lange wie wir im eisigen Wasser des Lake Champlain überleben konnte. Vermutlich hatten sie recht, aber so war es nun einmal.
Inzwischen schien Elises herzhaftes Frühstück eine Ewigkeit her zu sein. Ich fühlte mich etwas benommen. »Könnte ich einen Kaffee haben?«
Sie schauten einander an. »Gleich«, sagte der große Cop.
Plötzlich hatte ich es satt. Ich schob meinen Stuhl zurück, und das Quietschen ließ sie zusammenfahren. »Nein«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Ich hätte ihn gern jetzt. Kaffee mit viel Milch. Und etwas zu essen, bitte.«
Ich hatte sie wohl überrumpelt, denn sie brachten mir tatsächlich Kaffee und einen Doughnut, der altbacken und fettig schmeckte. Ich aß ihn trotzdem und trank den Kaffee mit dem furchtbaren Kaffeeweißer darin. Wir waren doch in Kanada, weshalb kauften sie ihren Kaffee und die Doughnuts nicht bei Tim Hortons? Na ja, vielleicht behielten sie die leckeren Sachen für sich.
Dann ging es wieder los mit den Fragen, noch drängender als zuvor.
|125| Sie wollten wissen, wovon ich lebte. Wie hoch mein monatliches Einkommen sei. Keine Rentenversicherung? Keine Altersvorsorge? Schließlich verschwanden sie, vermutlich um Baker anzurufen, sich mit Jameson zu besprechen oder meine Bankkonten auf fette Einzahlungen zu überprüfen. Dann kehrten sie zurück und stellten mir die ganzen Fragen in verschiedenen Varianten noch einmal. Wann hatte ich Philippe Dumond kennengelernt? Was hatte ich gegen Madeleine gehabt? Wie viel verdiente ich? Ich antwortete ruhig und unerschütterlich, begriff aber allmählich, wie es zu falschen Geständnissen kommen kann.
Ja, ja, ich bin’s gewesen, halten Sie endlich den Mund und lassen Sie mich in Ruhe!
Um zusätzliche Punkte zu erhalten, hatte ich mich im Studium einem psychologischen Test unterzogen, dem MMPI oder Minnesota Multiphasic Personality Inventory. Unter den Hunderten von Fragen waren bizarre Varianten wie:
Haben Sie jemals das Gefühl, dass sich ein Band um Ihren Kopf legt und einen intensiven Schmerz verursacht? Haben Sie jemals den Wunsch gehabt, jemanden zu töten?
Gelegentlich wurde auch
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