Ein Herzschlag bis zum Tod
Nationalitäten und Hautfarben so mühelos mischen. Obwohl die Kanadier natürlich auch ihre Eigenheiten haben.
»Es geht um die Entführung meines Sohnes im vergangenen Jahr. Wir haben ihn wiedergefunden.« Dumond hielt Paul fest an der Hand.
Die Frau schaute uns an, als hätte sie es mit Verrückten zu tun.
»Detective Jameson erwartet uns. Ich habe gesagt, wir würden heute Morgen kommen.«
Jetzt ein höfliches Lächeln. Die Frau war nicht dumm. Sie |121| merkte, die Sache überstieg ihre Zuständigkeit. »Einen Augenblick, bitte«, sagte sie und griff zum Hörer.
Sobald sie aufgelegt hatte, kam ein Mann an den Empfang. Sein Anzug war etwas zerknittert, und seine Haare sahen aus, als würde er regelmäßig mit den Fingern hindurchfahren. Er gab Dumond die Hand, murmelte eine Begrüßung und nickte Paul zu. Dann wandte er sich mir zu.
»Das ist Troy Chance aus Lake Placid im Staat New York«, erklärte Dumond. »Sie hat meinen Sohn Paul gefunden. Troy, dies ist Detective Jameson.«
Seine hellen Augen musterten mich unpersönlich und kalt. Mein Magen schlug Purzelbaum. Jetzt konnte ich nicht länger ignorieren, was ich bisher verdrängt hatte: In den Augen eines Polizisten stand ich nicht gut da. Da ich nicht umgehend zur Polizei gegangen war, war ich womöglich in den Fall verwickelt.
Cherchez la femme
, sozusagen. Und diese
femme
war nun geradewegs ins Netz der Spinne gewandert. Na ja, die Metapher war etwas schief.
Jameson nickte mir zu und führte uns einen Gang entlang. Vor einer offenen Tür blieb er stehen. »Miss Chance, wenn Sie bitte hier drinnen warten wollen.«
Ich drückte Pauls Hand, kniete mich hin und umarmte ihn. »Wir sehen uns gleich wieder.« Er drückte sich einen Herzschlag länger als sonst an mich. Als ich schon glaubte, ich müsste mich aus seinen Armen befreien, zog Dumond ihn sanft mit sich und hob ihn auf die Hüfte, einen Arm tröstend um ihn gelegt.
»Bis gleich, Troy«, sagte er munter.
Das Büro war nüchtern, wie man es erwartete: ein Tisch, Metallstühle, ein Bücherregal mit wenig einladenden, dicken Bänden, ein Aktenschrank mit gewaltigem Vorhängeschloss. Ich setzte mich auf einen Metallstuhl. Zappelte nervös herum. Inspizierte meine Fingernägel. Hätte am liebsten probeweise die Klinke niedergedrückt. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, |122| mir ein staubiges Buch aus dem Regal zu nehmen und etwas über kanadische Rechtsprechung zu lesen.
Sie wollten einen wohl zu einem Geständnis bewegen, indem sie es so ungemütlich machten, dass man aus freien Stücken redete.
Aber ich muss doch nur die Wahrheit sagen
, ermahnte ich mich. Ich hatte nichts Schlimmes getan – jedenfalls nicht viel.
Die Tür sprang auf, und zwei tadellos gekleidete, gepflegte Männer kamen herein. Einer war weiß, der andere kleiner und dunkelhäutig, ich tippte auf pakistanische Wurzeln.
Zuerst kamen die allgemeinen Fragen: Name, Alter, Staatsangehörigkeit, Anschrift, Beruf. Nachdem ich auf die letzte Frage »freiberufliche Journalistin« geantwortet hatte, fühlte ich mich durch ihr Schweigen zu einer näheren Erklärung verpflichtet. »Ich schreibe für Zeitschriften, vor allem für Sportmagazine, auch für einige Fluglinien, und ich arbeite für die Lokalzeitung.«
»Leben Sie mit jemandem zusammen, Miss Chance?«, erkundigte sich der Pakistaner.
»Nun, ich habe mehrere Mitbewohner.« Ich musste sie aufzählen – und weil Dave gerade erst eingezogen war, fiel mir sein Nachname nicht ein. Also dachte ich mir einen aus. Dann musste ich ihre Berufe nennen, die selbst für mich mehr als unkonventionell klangen. Zach streicht Häuser und erledigt Gartenarbeit. Ben ist Kellner. Dave Verkäufer in einem Sportgeschäft. Patrick scheint überhaupt nicht zu arbeiten, besitzt aber ein erstaunliches Talent, Mahlzeiten, Liftkarten und Konzertkarten zu schnorren. Vermutlich war es auch nicht gerade hilfreich, dass alle meine Mitbewohner männlich sind. So viel zum Thema respektabel.
»Ist einer dieser Männer Ihr Partner?«, wollte der andere Mann wissen. Sie hatten ihre Namen genannt, doch ich hatte sie schon wieder vergessen. Ich sah ihn verständnislos an.
»Partner, Freund, Liebhaber«, knurrte der andere und wirkte zum ersten Mal ungeduldig.
|123| Aha, er hatte die Samthandschuhe ausgezogen. Ich setzte mich aufrecht hin. »Nein. Ich bin mit Dr. Thomas Rouse, einem Professor an der University of Vermont, zusammen.«
Ich war so naiv gewesen. Ich hätte von Anfang an damit rechnen
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