Ein Herzschlag bis zum Tod
Blick auf die Uhr an der Wand. Es war später, als ich gedacht hatte. »Ich hätte auch anrufen oder mit dem Bus fahren können.«
Dumond schaute mich an, als hätte ich etwas unfassbar Dummes gesagt. Vielleicht hatte er recht.
»Troy,
regarde
, von McDonald’s«, sagte Paul und wedelte mit dem Spielzeug, einer Figur aus einem aktuellen Zeichentrickfilm. Noch etwas, das er aufholen musste – man wird von anderen Kindern nur dann akzeptiert, wenn man die neuesten Kinofilme kennt, vor allem die mit Happy-Meal-Status.
Dumond sah mich an, als wollte er sagen
Was soll ein Vater da machen?
Wenn mein Sohn, den ich seit fünf Monaten nicht gesehen habe, zu McDonald’s möchte, dann gehen wir eben zu McDonald’s. Als wir aus der Parklücke setzten, rief er Elise an und sagte Bescheid, dass wir unterwegs waren.
»Wie war es?«, fragte er mich dann.
»Ganz gut, ich bin nur müde.« Ich schloss die Augen, wohl wissend, dass Paul uns hören konnte. »Immer wieder das Gleiche.« Wir glitten lautlos durch den dichten Verkehr. Ich öffnete die Augen. »Ach ja, mein Bruder Simon kommt wahrscheinlich her.«
»Ihr Bruder?«
»Ja, er ist Polizist in Orlando. Ich habe ihn um Rat gebeten, |129| und er wollte unbedingt herkommen. Wahrscheinlich bleibt er nur ein oder zwei Tage.« Er drang nicht weiter in mich. Wir waren beide müde und hungrig. Ich bezweifelte, dass er etwas bei McDonald’s gegessen hatte.
Als wir das Haus betraten, empfing uns der tröstliche Geruch von Essen. Paul warf sich auf den Bden, umarmte Tiger und stürmte zu Elise in die Küche. Er würde lange brauchen, bevor er das alles wieder als selbstverständlich betrachten konnte. Falls das überhaupt je der Fall sein würde.
Dumond ging ihm nach, vermutlich um Elise vom Besuch beim Arzt zu erzählen.
Wir waren jetzt zu dritt: Vater, Kindermädchen und Retterin, die Paul alle beschützen und ihm Kraft geben würden. Ob es auch in Montreal Menschen gab, die ihm geholfen hätten? Vielleicht hatte sein Vater wegen der Drohungen die ganze Geschichte für sich behalten. Oder er war ein Mensch, der gerne allein handelte – so wie ich.
Weitere Einsichten konnte ich an diesem Tag nicht mehr verkraften.
Elise hatte Eintopf gekocht und Vollkornbrot gebacken. Sie servierte Paul kleine Portionen, die er mühelos aufessen konnte. Ihm fielen schon die Augen zu, und Dumond schickte ihn mit Elise in sein Zimmer.
Als ich zu ihm hineinging, um gute Nacht zu sagen, war er frisch und rosig vom Baden und umarmte mich fest. Keine zehn Minuten später traf ich mich mit Dumond zu Kaffee und Nachtisch in der Bibliothek, denn Paul war mitten in der Gutenachtgeschichte eingeschlafen.
Zum Nachtisch gab es selbst gebackenen Brombeerkuchen mit Sahne – frisch geschlagen, nicht das Zeug aus der Sprühdose. Ich stöhnte beinahe, als meine Geschmacksknospen den ersten Bissen aufnahmen. Wir aßen schweigend, bis Dumond sagte: »Erzählen Sie mir von Ihrem Bruder.«
|130| Ich aß erst den Kuchen bis zum letzten Krümel auf. »Simon ist ein Jahr älter als ich. Er macht sich Sorgen und hatte noch ein paar Tage Resturlaub. Deshalb fliegt er her.« Es sollte sich nicht so anhören, als würde Simon Philippe verdächtigen – was er natürlich tat.
»Wenn ich eine Schwester hätte, würde ich das Gleiche tun«, sagte er leichthin. »Er wird natürlich hier wohnen.«
»Danke.« Ich war erleichtert. »So wie ich Simon kenne, dürfte er bald hier sein.«
»In Ordnung. Ich muss morgen noch einmal mit Paul zur Polizei. Ein Zeichner soll versuchen, Phantombilder der Entführer zu erstellen.«
»Hat er ihre Gesichter gesehen?«
Er nickte. »Anscheinend hatten sie Tücher umgebunden, wenn sie in sein Zimmer kamen. Er sagt aber, er habe sich auf den Boden gelegt und unter der Tür durchgeschaut. Und einmal sei die Tür nicht richtig zu gewesen. Da sei er hinausgegangen und habe beide kurz gesehen.«
Ich stellte die Frage, die mir keine Ruhe ließ. »Befürchtet die Polizei, dass die Entführer von seiner Rettung erfahren haben und nach ihm suchen?« Ich hatte Dumond mühelos gefunden, das konnten sie auch.
Er schüttelte den Kopf. »Sie bezweifeln, dass jemand gesehen hat, wie Sie ihn gerettet haben. Die Sicht war schlecht und die Entfernung zwischen den Fähren ziemlich groß. Würden wir noch in Montreal wohnen, wäre es etwas anderes. Aber hier werden sie wohl nicht nach ihm suchen.«
Dieses
wohl
war nicht sonderlich beruhigend. Irgendwann würde die Sache bekannt werden. Jemand
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