Ein Herzschlag bis zum Tod
Zeichnungen herausholte. Dass er aufgeregt war, spürte ich nur, weil sich seine kleinen Finger fest um meine schlossen. Die ersten Zeichnungen sah er sich entschlossen an und deutete dann auf eine. »
Comme ça
«, sagte er. »Mit einem Ding im Gesicht.«
|152| Simon zückte den Bleistift. »Einem Ding? Etwa so?« Er fügte einen kleinen Punkt hinzu.
»Mehr«, erklärte Paul und nickte, als der Punkt zu einem ansehnlichen Muttermal herangewachsen war. Bei dem zweiten Satz Bilder deutete er entschlossen auf das vierte. »Mehr Haare«, sagt er kritisch, worauf Simon sie verlängerte.
»Wie ist es mit Farben?«, fragte Simon, was ich übersetzte. Paul deutete auf die Haare: »
Noir. Et le nez, rouge.
«
»Paul hat Buntstifte im Schreibtisch«, sagte ich, und Philippe ging sie holen. Simon fügte Farben hinzu, rötliche Adern auf der Nase, dunkles Haar und zeichnete nach Pauls Anweisungen weitere Verbesserungen an beiden Bildern. Sein Vater sah ihnen dabei zu. Irgendwann fielen Paul die Augen zu.
»Ich bin müde«, sagte er quengelig.
»Dazu hast du auch allen Grund.« Ich drückte ihn fest an mich. »Du hast heute viel gearbeitet. Und bist sicher hungrig. Gleich gibt es Abendessen.« Ich nahm ihn von meinem Schoß und ging mit ihm ins Badezimmer.
Nach dem Essen legte Philippe einen Film mit Jim Carrey ein, in dem es um vermisste Haustiere und Dschungelbewohner ging. Ich fand ihn gar nicht witzig, aber die Männer hatten ihren Spaß, sogar mein intelligenter, kritischer, künstlerisch begabter Bruder. Ich ging ins Bett, während die drei sich amüsierten.
Eigentlich hatte ich noch lesen wollen, konnte aber die Augen nicht offen halten. Ich wusste, dass Simon alles, was er hier erlebte, wie ein Schwamm aufsaugen und mir erst unmittelbar vor der Abreise am Sonntag von seinen Schlussfolgerungen berichten würde. In mancher Hinsicht ist er sehr berechenbar, was ärgerlich, aber auch tröstlich sein kann.
Fürs Erste konnte ich den Teil meines Gehirns ausschalten, der mir keine Ruhe ließ und ständig fragte:
Was denkt Jameson? Warum erwähnt Paul nie seine Mutter? Warum spricht keiner über Madeleine? Warum hat Philippe sich entschlossen, nach Ottawa zu ziehen?
|153| 23
Ich schlief tief – wohl, weil ich mich zum ersten Mal, seit ich Paul gefunden hatte, wirklich entspannen konnte. Als ich zum Frühstück kam, hatten sich die Männer bereits die Teller vollgeladen und waren in ein Gespräch über Fensterriegel vertieft. Ich nahm mir eine luftige Waffel und lächelte Paul zu, der ein bisschen besorgt schien, wenn jemand sich nicht an der Unterhaltung beteiligte.
Dann fielen die Wörter
Canadian Tire
und
Home Depot
.
»Was?« Hatte ich mich verhört?
»Wir wollten ein paar Sachen fürs Haus besorgen, die Simon vorgeschlagen hat«, erklärte Philippe, worauf mich die drei erwartungsvoll anschauten. Anscheinend ist die männliche Sehnsucht danach, durch die Gänge riesiger Baumärkte zu streifen, vollkommen unabhängig von Alter, finanziellem Status und Nationalität.
»Oh nein«, sagte ich und arrangierte halbierte Erdbeeren auf meiner Waffel. »Da kriegt ihr mich nicht hin.« Das ist für mich einer der definitiven Geschlechterunterschiede – das und die Komiker
The Three Stooges
. Ich hasse es, auf der Suche nach einer ganz bestimmten Schraube durch Baumärkte zu laufen, und habe diese Slapstick-Truppe niemals auch nur annähernd komisch gefunden.
Sie grinsten. »Ihr kommt schon ohne mich klar«, sagte ich. »Ich kümmere mich um den Computer.«
Die drei waren offenbar ganz wild darauf, endlich loszufahren, und Paul freute sich, bei dieser Männersache dabeizusein. |154| Ich fuhr ihm durchs Haar und begegnete Philippes Blick. Er nickte, als hätte er meine Bitte verstanden.
Seid vorsichtig, übertreibt es nicht.
Ich knuffte Simon im Vorübergehen, was so viel heißen sollte wie
Pass gut auf Paul auf und erzähl keine peinlichen Geschichten über mich.
Ich war froh, dass Paul ganz normal am Samstag in einen Baumarkt fuhr, und doch kam es mir irgendwie seltsam vor. Natürlich hätte es ihm nicht gutgetan, ständig zu Hause zu bleiben. Natürlich war er sicher bei seinem Vater und Simon, der automatisch jede Situation auf mögliche Bedrohungen prüfte.
Vielleicht gefiel es mir einfach nicht, dass Paul etwas ohne mich unternahm.
Nicht mein Kind.
Ich durfte mein Mantra nicht vergessen.
Ich aß meine Waffel auf und spielte mit dem Gedanken, Thomas anzurufen. Dabei fühlte ich mich unbehaglich, was vermutlich
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