Ein Herzschlag bis zum Tod
hieß, dass ich es tun sollte. Nach meiner Theorie ist die Möglichkeit, bei der man sich am unwohlsten fühlt, gewöhnlich die, für die man sich entscheiden sollte.
Es hätte nicht schlimmer laufen können. Ich hatte vergessen, dass ich der Polizei seinen Namen genannt hatte, und sie hatten ihn angerufen. Immerhin hatte ich ihm die wichtigsten Informationen gemailt, doch das war selbst für Thomas zu viel.
»Troy, du kennst diesen Mann doch überhaupt nicht«, sagte er, wobei seine zurückhaltende Stimme schärfer klang als sonst. »Du weißt nicht, ob er etwas damit zu tun hat. Das kann gefährlich werden.«
Ich zählte bis vier und sagte: »Ich muss jetzt los. Wir reden später weiter.«
Ich hatte geglaubt, es wäre eine Erleichterung, wenn Thomas seine sorgsam bewahrte Gleichgültigkeit endlich aufgäbe, doch das war ein Irrtum. Er hatte die sorgfältig abgesteckten Grenzen unserer Beziehung überschritten, und das gefiel mir gar nicht.
|155| Ich wollte ihm nicht weh tun, aber …
du willst ihn für Notfälle behalten
, sagte die unangenehme innere Stimme.
Du bist noch nicht bereit, ihn aufzugeben.
Ich hasse diese Augenblicke der Selbsterkenntnis.
Ich rief Baker an. Sie begriff sofort, dass etwas im Busch war, wenn ich sie aus Kanada anrief. Also erzählte ich ihr von Simons Besuch und von Thomas. »Er scheint fast eifersüchtig zu sein, aber das ergibt keinen Sinn. Ich meine, ich wohne mit vier Männern zusammen. Und er weiß nicht, dass Philippe, na ja …«
»Hinreißend ist?«
»Ja, schon, und so weiter.«
»Reich? Mercedes, Armani und Hundert-Dollar-Haarschnitt?«
»Baker, du hast doch keine Ahnung, was sein Haarschnitt kostet.«
»Von wegen.«
Ich schwieg. Bakers Schwester hat als Friseurin in New York gearbeitet, also hatte sie vermutlich recht.
»Aber Elise ist auch hier. Und Paul.«
»Ja, Paul ist da, und das macht Thomas vermutlich am meisten Angst. Mit ihm kann er es nicht aufnehmen, das weiß er genau.«
Ich wusste, dass Thomas keine Kinder wollte, aber ich. Und nun wohnte ich hier bei einem Kind und seinem Vater.
Ich versprach Baker, sie auf dem Laufenden zu halten, und ging an Philippes Computer. Ich prüfte meinen Twitter-Account, suchte weitere Bücher über entführte Kinder und die Adresse der nächsten öffentlichen Bibliothek heraus.
Dann fragte ein kleiner Dämon in meinem Kopf, wer wohl die Julia-Identität benutzt hatte, die ich in Outlook Express entdeckt hatte. Ob Philippe eine Freundin hatte – vielleicht in Ottawa, womöglich war er ihretwegen hergezogen. Oder eine Mitarbeiterin hatte den Computer benutzt. Ich könnte einen |156| schnellen Blick auf die Betreffzeilen werfen, um zu sehen, ob sie beruflicher Natur waren. Also öffnete ich das Programm und klickte auf Julia.
Man brauchte ein Passwort.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Es war eine Herausforderung, die meine Gefühle vollkommen ausschaltete und mein Gehirn auf Hochtouren brachte. Statt zu denken
Das ist privat, Finger weg
, sagte es mir
Aha, ein Problem, das ich lösen muss.
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen gab ich nacheinander die Namen von Philippes Firma, die Adresse, seinen Namen und einige andere Begriffe ein.
Dann kam ich auf die Idee, seine Frau könnte den Computer in Montreal benutzt haben. Allein der Gedanke hätte mich bremsen sollen, tat es aber nicht. Ich versuchte es mit Pauls Namen, allein und in Verbindung mit einem geschätzten Geburtsjahr.
Madeleine
funktionierte nicht, das war kein Wunder – fast niemand ist so fantasielos, wenn es um die Einrichtung eines Passwortes geht. Dann versuchte ich es rückwärts:
enieledam.
Und schon öffnete sich der Account wie das Tor zu Aladins Höhle.
E-Mails erschienen auf dem Bildschirm, schneller und schneller. Wie erstarrt schaute ich zu. Schon der rasche Blick auf die Betreffzeilen verriet mir, dass es in der Tat Madeleines E-Mail -Account gewesen war. Die ersten Nachrichten waren mehrere Monate alt, aber dann strömten auch neuere auf den Bildschirm. Mein Herz hämmerte. War es möglich, dass ihre Freundinnen tatsächlich
nicht wussten, dass sie tot war?
Endlich waren alle Mails heruntergeladen. Mein Mund war trocken. Die Stimme in meinem Kopf sagte:
Du sitzt an einem Computer, den Philippes tote Frau benutzt hat.
Es waren Dutzende ungelesener Nachrichten, die bis in den letzten Juli, lange vor der Entführung, zurückreichten. Weshalb hatte Madeleine sie nicht abgerufen? Konnte sie schon früher verschwunden sein?
|157| Dann kam
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