Ein Herzschlag bis zum Tod
dass sie mir die Rechnung überlassen hatte.
Geschah mir recht. Ich hatte diese Frau ermutigt, über eine Freundin zu reden, von deren Tod sie nicht wusste, und hatte Einzelheiten aus einer furchtbar traurigen Vergangenheit erfahren – Eltern tot, schlimme Pflegefamilien, Baby verloren. Es half auch nicht gerade, dass ich eine zweistündige Rückfahrt vor mir hatte, auf der ich grenzenlos grübeln konnte.
Ich fuhr geradewegs zur Schule, um Paul abzuholen, und rief Elise an, damit sie Tiger hinausließ. Als ich mich der Schule näherte, registrierte ich jedes Auto in meiner Umgebung. Auf dem Heimweg sah ich so oft in den Rückspiegel, dass ich kaum mitbekam, was Paul so alles erzählte.
Während er sich umzog, rief ich noch einmal Madeleines Mails ab. Gaius hatte geantwortet: zehn kurze Wörter, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagten.
Ein Spiel, bei dem du verschwindest und der Junge zurückkommt.
Mein Gehirn war wie blockiert. Dieser Mensch wusste zwar nicht, dass Madeleine entführt worden war,
dafür aber, dass Paul zurückgekehrt war.
Wie konnte er das eine wissen und das andere nicht? Ich las noch einmal die erste E-Mail :
Julia, o Julia, was spielst du für ein Spiel?
Ich musste meine Informationen an die Polizei weitergeben, wollte ihnen aber nicht Madeleines Mails aushändigen. Auch war es mir lieber, wenn die Polizei nicht wusste, was ich getan hatte.
Ich saß richtig in der Patsche. Simon hätte gesagt, dass sich Laien genau deshalb nicht in so etwas einmischen sollten.
Doch weil ich so kurz davorstand, etwas herauszufinden, schickte ich noch eine Nachricht. Ich dachte angestrengt nach und schrieb:
Was, glaubst du, ist passiert?
Dann begann ich meine Recherchen. Diesmal benutzte ich nur die Vornamen der Geschwister und die Schlagwörter
Québec, Eltern
und
Mord.
Und ich fand die Geschichte.
|223| Die beiden waren neun und elf gewesen, als ihre Eltern bei einem mutmaßlichen Mord und anschließendem Selbstmord starben. Sie hatten die beiden gefunden. Damals trugen sie einen anderen Nachnamen; vielleicht hatten sie später den Namen einer Pflegefamilie angenommen. Ich fragte mich, ob Philippe diese düsteren Einzelheiten kannte.
Ich schaltete den Computer aus und fühlte mich durch und durch beschämt. Ich schämte mich, weil ich Gina unter falschen Voraussetzungen getroffen hatte. Ich schämte mich, weil ich Claude gegenüber, der eine so schreckliche Kindheit durchlitten hatte, intolerant gewesen war. Und ich schämte mich, weil ich in meinem Hochmut geglaubt hatte, erfolgreich zu sein, wo die Polizei gescheitert war.
Erst jetzt begriff ich, wie gefährlich Selbstüberschätzung sein kann.
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Auch die Tatsache, dass Philippe mich zu einer Veranstaltung für örtliche Geschäftsleute eingeladen hatte, bei der seine Firma für einen Preis nominiert war, besserte meine Stimmung nicht. Er hatte eine Eintrittskarte übrig, weil Claude abgesagt hatte. Selbst ich wusste, dass ich nicht zweimal im selben Kleid erscheinen konnte, und hatte mir – selbstständig – ein schlichtes schwarzes Kleid gekauft, das reduziert gewesen war. Zum Glück konnte ich dieselben Schuhe dazu tragen.
Es war das übliche Festbankett mit aufgeblasenen Rednern und Witzen, die nicht komisch waren. Es war schicker und größer als die Essen, die ich während meiner Arbeit für die Lokalzeitung besucht hatte, ansonsten aber ganz ähnlich. Philippe nahm seinen Preis höflich entgegen, und nach dem Essen wurde geplaudert. Er besorgte uns gerade Wein, als ich eine Stimme neben mir hörte.
»Hallo.« Ich zuckte zusammen und erkannte den Mann erst auf den zweiten Blick. Es war Detective Jameson mit gebügeltem Hemd, säuberlich geknoteter Krawatte und ordentlicher Frisur.
»Hallo, was machen Sie denn hier?«
Er antwortete nicht. Wir konnten Philippe am anderen Ende des Raumes sehen, wo er sich mit einer schrillen Frau und einem untersetzten Mann unterhielt, die Weingläser in den Händen hielten. Er versuchte offenkundig, sich mit Anstand zu verabschieden.
»Sie sind also zusammen«, sagte er unvermittelt.
|225| »Nein, sind wir nicht.«
»Was ist mit Ihrem Freund in Vermont?«
Ich drehte mich zu ihm, doch seine Miene war ausdruckslos. »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass Philippe und ich nicht zusammen sind. Nur weil ich eine Veranstaltung mit ihm besuche, sind wir noch lange kein Paar. Sie sind ja auch hier, obwohl wir nicht zusammen sind.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wie lange schlafen Sie
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