Ein Herzschlag bis zum Tod
Follower weitergeben wie einen virtuellen Kettenbrief. Man konnte nie wissen, wer sie alles lesen würde.
Dann prüfte ich Madeleines E-Mail -Account. Eine neue Nachricht von einem Absender namens Gaius
: Julia, o Julia, was spielst du für ein Spiel?
Ich las sie noch einmal. Er nannte sie Julia, was auf eine gewisse Intimität schließen ließ. Vielleicht war es ein Mann, mit dem sie zusammen gewesen war – und vielleicht war er wütend, weil er so lange nichts von ihr gehört hatte. Darauf zu |220| antworten war heikel. Doch wenn dieser Mensch Madeleine gut gekannt hatte, könnte ich vielleicht etwas von ihm erfahren. Also tippte ich
Was meinst du?
und schickte die Mail ab, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Dann musste ich losfahren, um Gina zu treffen.
Wenn ich es eilig habe, verfahre ich mich immer, lasse ich es ruhig angehen, läuft alles bestens. Ich traf eine Viertelstunde zu früh in dem Café in Montreal ein und bestellte einen Eistee.
Ich war schwarz gekleidet – Jeans, enges T-Shirt und Blazer. Das Aufnahmegerät hatte ich in der Tasche. Gina hatte gesagt, sie würde Rot tragen. Ich entdeckte sie sofort, als sie mit zehnminütiger Verspätung eintraf. Sie hatte langes, duftiges Haar und so stark geschminkte Augen, wie ich es außerhalb von Nashville noch nie gesehen hatte. Mir war genügend Zeit geblieben, um meinen Einsatz zu proben:
Ich habe seit Monaten nichts von Madeleine gehört; ich mache mir Sorgen und habe Ihre E-Mail -Adresse zufällig in einer alten Mail gefunden.
Wie sich herausstellte, musste ich gar nicht viel reden. Es lief so mühelos, dass ich ein schlechtes Gewissen bekommen hätte, wäre nicht meine ganze Energie dafür draufgegangen, ihrem Wortschwall zu folgen. Ich musste nur ein Thema anschneiden, schon legte sie los. Wo konnte Madeleine nur sein?
Vermutlich in Florida oder auf einer Kreuzfahrt, sie reist ja gern, und ich wünschte, ich könnte das auch, aber ich komme irgendwie nie weg, aber sie hat gesagt, sie würde mich irgendwann mal mitnehmen und auch bezahlen, ich müsste nur das Flugticket kaufen.
Könnte sie mit jemandem zusammen unterwegs sein?
Also, ihr Mann arbeitet ja die ganze Zeit, aber manchmal ist ihr Bruder mitgefahren, und wer weiß, vielleicht hat sie einen Geliebten, aber sie hat nie darüber gesprochen, und ich habe sie sonst auch nur mit ihrem Bruder gesehen. Sie hat mal eine Freundin, der Name fällt mir nicht mehr ein, mit in den Salon
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gebracht, Maniküre und Haare schneiden, und sie hat sogar dafür bezahlt, aber sie hatte natürlich immer eine Menge Geld.
Was ist mit ihrem Sohn?
Ja, der ist richtig süß, aber schrecklich still. Er hat die meiste Zeit mit dieser alten Frau, dem Kindermädchen, verbracht.
Seltsamerweise war sie mir sympathisch.
Zwischen dieses Gerede quetschte sie noch Informationen über ihren Job als Hairstylistin – so hatte sie Madeleine kennengelernt –, aß ein herzhaftes Sandwich und trank zwei Gläser Weißwein. Ich nutzte die unerwartete Vertraulichkeit, beugte mich vor und sagte leise: »Ich bin mir gar nicht so sicher, dass Madeleine wirklich ein Kind wollte.«
Schon ging es wieder los:
Ja, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, der Junge war eine Art Unfall, wenn auch mit Absicht, um Philippe die Ehe schmackhaft zu machen, denn manche Männer tun diesen Schritt ja nie, solange sie nicht müssen, und es ist kein Wunder, dass Maddie eigentlich keine Kinder mag, denn sie war ständig von ihnen umgeben, und in diesen Pflegefamilien gab es ein paar richtig schlimme Exemplare, und ich denke, dass sich die Pflegeväter auch Freiheiten herausgenommen haben, so was hat Maddie mal angedeutet, und sie ist ja auch ziemlich jung schon schwanger geworden, aber das Baby kam tot zur Welt, und sie sah richtig toll aus, als sie ganz jung war. Ich habe Fotos von ihr gesehen.
Ich war froh, dass ich das Gerät dabeihatte, sie redete einfach zu schnell. Dann hielt sie inne, und ich murmelte: »Hört sich an, als hätte sie es im Leben nicht leicht gehabt.«
Sie nickte. »Genau, und nach dem, was mit ihren Eltern geschehen ist, war es noch schlimmer, und sie hat sie gefunden, da war sie erst elf.« Dann sagte sie ganz leise: »Der eine hatte den anderen getötet, ich weiß nicht mehr, wer wen.«
Plötzlich sah sie auf die Uhr und stand auf. »Also, es war echt nett, Sie kennenzulernen, aber ich habe einen Termin. Parkplätze sind knapp, ich muss los.« Sie winkte mir zu und |222| verschwand, bevor ich merkte,
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