Ein Herzschlag bis zum Tod
an, der mir in meinem augenblicklichen Zustand zu künstlerisch und anspruchsvoll war.
Ich hörte meinen Anrufbeantworter in Lake Placid ab.
Philippe hatte sich gemeldet, und ich rief ihn zurück. Er meldete sich beim ersten Klingeln.
»Hey.« Seine Stimme klang ungeheuer tröstlich. Ich stellte |266| mir vor, ich wäre in Ottawa und genösse gerade Elises Abendessen.
»Wie sieht es bei dir aus?«
»Gut. Ich bin für ein paar Tage nach Burlington gefahren.« Pause. Ich merkte, dass er sich eine Frage zurechtlegte, und kam ihm zuvor. »Ich … schaue mich ein bisschen um, Philippe.«
»Wie meinst du das?«
Ich holte tief Luft. Ich war mir nicht sicher, ob ich es erklären konnte. »Ich versuche, eine der Wohnungen zu finden, in denen Paul gefangen gehalten wurde. Vielleicht kann ich auch etwas über die Männer selbst in Erfahrung bringen.«
Längere Pause. Vermutlich wollte er mir die Sache ausreden und überlegte, wie er es anstellen sollte. »Troy, das kann gefährlich werden. Außerdem hat die Polizei das sicher alles überprüft.«
»Ja, aber es hat für sie nicht höchste Priorität, vor allem, da Paul wieder zu Hause ist.«
»Hör mal, ich könnte einen Privatdetektiv dorthin schicken, wenn du meinst, dass es nötig ist. Sonst mache ich mir Sorgen um dich. Du musst das nicht tun.«
»Doch«, mir brach fast die Stimme, »doch, das muss ich.«
Er war still. Vielleicht verstand er mich, immerhin hatte auch er mit Schuldgefühlen zu kämpfen. »Warum kommst du uns nicht lieber besuchen?«
»Nein, nein. Das geht jetzt nicht.« Meine Stimme wurde lauter, und er wechselte das Thema. Er erzählte, was Paul in seinem Sommerkurs machte und dass Bear inzwischen stubenrein war. Ich gab ihm Thomas’ Nummer und versprach, regelmäßig zu mailen, anzurufen, vorsichtig zu sein und ihn zu benachrichtigen, sobald ich irgendetwas herausgefunden hatte.
Hätte Philippe mehr Zeit gehabt, würde er vermutlich selbst ermitteln. Aber da waren Paul, seine Firma und seine Mitarbeiter. Ich hingegen war ungebunden.
|267| Den ganzen Sonntag telefonierte ich und schaute mir Wohnungen an. Thomas bot mir an, einige Plakate auf dem Unigelände aufzuhängen, und nahm am Montag einen Stapel mit zur Arbeit. Ich setzte die Wohnungssuche fort. Am Mittwoch schaute mich Thomas beim Abendessen besorgt an. »Troy, du musst ein bisschen kürzertreten.«
Ich grinste. »Sehe ich so schlimm aus?«
»Na ja, jedenfalls müde.«
Die Telefoniererei war nervig, aber die Besichtigungen waren noch schlimmer. Hätten sich nicht so viele Besitzer gefreut, jemanden zum Reden zu haben, hätte ich ein sehr schlechtes Gewissen gehabt, weil ich ihre Zeit verschwendete. Ich hörte mir in allen Einzelheiten an, dass Enkel Johnny so ein netter Junge gewesen sei, bis er mit dem Kokain anfing. Dass Tochter Martha Brustkrebs habe und die Ärzte keine Hoffnung mehr sähen, obwohl sie beide Brüste abgenommen hatten. Dass die liebe Lillian friedlich im Bett gestorben sei und so hübsch ausgesehen habe wie am Tag ihrer Hochzeit. Und dass die Kinder alle zu beschäftigt seien, um einen zu besuchen, und dass die Steuern ständig erhöht wurden und die Medikamente so teuer seien, dass sie manchmal nur die halbe Dosis nahmen und sich fragten, ob man sie in Kanada tatsächlich billiger bekäme.
Am liebsten hätte ich mich auf die Suche nach den erwachsenen Kindern gemacht und ihre Köpfe aneinandergeschlagen und die verdammte Medizin aus eigener Tasche bezahlt.
Als ich mir die Wohnungen ansah, musste ich an Paul denken, der so lange in einer von ihnen gehaust hatte – fast ein halbes Jahr, ein Zwölftel seines Lebens. Ohne Eltern, ohne Kindermädchen, ohne Schule, ohne Zuhause. Allein und immer in der Nähe der Tür, damit er den Fernseher hören konnte. Wie er seine Kleidung im Waschbecken gewaschen hatte. Sich über ein Plastikspielzeug von McDonald’s gefreut hatte. Ein Loch in die Wand graben wollte, um sich zu befreien.
»Ein Professor, Vince Thibault, hat mich auf dein Plakat |268| angesprochen«, sagte Thomas. »Ich glaube, ihr seid euch ein paarmal begegnet.«
Ich suchte in meinem Gedächtnis, und dann sah ich ihn vor mir: einen freundlichen, eher kleingewachsenen Mann, stämmig, mit Sonnenbräune aus dem Tennisclub und Lachfältchen um die Augen. Ich hatte ihn kennengelernt, als ich mal bei Thomas im Büro gewesen war.
»Er hat mir von einem Französischclub erzählt, den er leitet. Dort treffen sich einige Leute alle paar Wochen, um miteinander
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