Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Bemerkung flackern Guttmanns Augen: »Sie meinen, Scheer benutzt …«
»Stimmt. Halbwüchsige. Drogenhungrige Kinder. Und wenn ich ihm die Straße verbiete, kann er seine Pferdchen nicht laufen lassen.«
»Warum verhaften Sie ihn nicht?«
»Ich hab' ihn ja schon verhaftet. Hab' ich Ihnen doch gesagt. Das hat überhaupt nichts genutzt. Der kommt noch am gleichen Tage wieder raus. Zuhälterei läßt sich schwer beweisen, es sei denn, die Mädchen sagen aus. Und die werden sich hüten. Die wissen ganz genau: Wenn sie reden, läßt er ihnen die Gesichtszüge entgleisen.«
Guttmann hält seine Tasse schräg und schaut in die schwarze Brühe auf dem Grund. Dennoch … selbst bei einem Zuhälter, der halbe Kinder laufen läßt, darf ein Polizist nicht Richter und Vollstrecker spielen. Grundregeln ändern sich nicht, selbst wenn es einem im konkreten Fall schwerfällt, sie einzuhalten.
LaPointe schaut dem jungen Mann prüfend in das ernste und beunruhigte Gesicht. »Was halten Sie von der Main?« fragte er und lockert den Griff, indem er das Thema wechselt.
Guttmann schaut auf: »Bitte?«
»Mein Revier. Was halten Sie von ihm? Sie sind sich doch wohl klar darüber, daß ich Ihnen bei der ganzen Rumzieherei die große Rundfahrt geboten habe.«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist … interessant.«
»Interessant?« LaPointe schaut aus dem Fenster und beobachtet die Vorübergehenden. »Ja, ich glaube schon. Natürlich müssen Sie ein schiefes Bild von der Straße bekommen, wenn Sie als Schutzmann unterwegs sind. Sie sehen in erster Linie die Luden, die Spinner, die Schläger, die Nutten und die Penner. Sie sehen die Straße, wie Gaspard sagen würde, aus der Scheißhaufenperspektive. Neunzig Prozent der Menschen hier sind nicht schlimmer als anderswo. Vielleicht ärmer. Dümmer. Schwächer. Aber nicht schlimmer.« LaPointe fährt sich mit der flachen Hand übers Haar und lehnt sich zurück. »Wissen Sie, vor acht oder zehn Jahren ist mir mal was Komisches passiert. Ich war gerade auf Tour und ging zufällig hinter einem Mann her – er muß so um die siebzig gewesen sein –, der sich ziemlich komisch verhielt. Läßt sich schwer beschreiben. Hatte das Gefühl, den kennst du, aber natürlich kannte ich ihn nicht. Es war nicht, wie er die Dinge ansah, sondern was er sich ansah. Sie wissen, was ich meine?«
»Ja, Sir«, lügt Guttmann.
»Schön. Er ging wo rein auf einen Kaffee, und ich setzte mich neben ihn. Wir kamen ins Gespräch, und dabei stellte sich heraus, daß er ein pensionierter Polizist aus New York war. Und das war's denn auch, was mir unbewußt aufgefallen war: die Art des Schutzmanns, die Dinge so zu sehen, wie sie nur ein alter Hase sehen kann: Türschlösser, Schuhe, Telefonzellen mit zerbrochenen Scheiben und alles. Er war hierhergekommen, weil seine Enkeltochter einen Kanadier heiratete und die Hochzeit in Montreal war. Er hatte es satt, nur so rumzusitzen und mit Leuten, die er nicht kannte, dummes Zeug zu schwätzen, und so zog er los und kam schließlich auf die Main. Er hat mir erzählt, als er hier durch die Straßen ging, habe es ihm regelrecht einen Stich gegeben. Das erinnerte ihn an New York in den zwanziger Jahren – die vielen Sprachen, die kleinen Läden, die Arbeiter und Halbstarken und billigen Mädchen und Hausfrauen und Kinder, und das alles miteinander und durcheinander auf derselben Straße, und doch hat keiner vor dem anderen Angst. Er sagte, früher, als noch die Einwanderer kamen, sei das in New York genauso gewesen. Aber so sei es heute nicht mehr. Heute ist es nachts eine dichtgemachte Stadt der Angst. Nicht mal die Bullen liefen allein herum. Darin würden wir dreißig Jahre hinter New York herhinken. Und solange ich auf der Main bin, werden wir es auch nicht einholen.«
Guttmann ahnt, daß das alles mit der Schikane gegen den Zuhälter zu tun hat, aber er sieht nicht recht, wie.
»Okay«, sagt LaPointe und reckt sich. »Wenn Scheer sich also beschwert, werden Sie ihm helfen.«
»Ja, Sir, das müßte ich tun.«
LaPointe nickt: »Das glaub' ich gern. Na schön. Ich hab' noch ein paar Einkäufe zu machen. Sie gehen jetzt am besten nach Hause und essen was. Sieht ganz danach aus, daß wir den Vet heute abend schnappen, und dann kann's spät werden.«
LaPointe steht auf und zieht den Mantel an, während Guttmann dasitzt mit dem Gefühl, in der Sache mit Scheer nicht direkt geschlagen, aber unterlaufen und übergangen worden zu sein.
»Was ist los?«
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