Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
die schimmernden Gleispaare zum Fuß des Damms unter dem Drahtzaun und dem Lichterschein der Stadt.
»Von hier finden wir schon allein«, sagt LaPointe zu dem Tramp.
Wortlos macht der Vet kehrt und geht den Weg, den sie gekommen, wieder zurück.
»Vet?« ruft LaPointe.
Der Penner bleibt wie angewurzelt stehen, dreht sich aber nicht nach ihnen um.
»Du weißt, ich sage niemandem was von deiner Bleibe, verstehst du?«
Die Stimme des Vet klingt gleichgültig: »Jaa.« Er hält die Krempe seines Schlapphuts fest und schleppt sich über die Gleise zurück.
LaPointe schaut ihm einen Augenblick nach. »Kommen Sie«, sagt er. Sie arbeiten sich den Schotterdamm hoch, klettern über den Drahtzaun und stehen bald wieder im Hellen, in der Straße der Lagerhäuser. Während Guttmann weitergeht, bleibt LaPointe einen Augenblick lang stehen und läßt seinen Blick noch einmal über den Verschiebebahnhof schweifen, dieses aus Montreals Straßen- und Lichterplan herausgeschnittene mattschwarze Loch. Sein Realitätssinn gerät ins Kippen. Irgendwie kommt ihm diese Straße mit ihren Lagerhäusern und dem Brausen und Brennen des an der Ecke vorbeiströmenden Verkehrs künstlich vor, nicht von Dauer. Dieser düstere, gottverlassene Frachthof mit seinen von erfrorenen schwarzen Kletten überwucherten Trampelpfaden, mit seiner Stille inmitten des Tosens, seiner Finsternis inmitten der Lichter der Großstadt – das war real. Es war nicht schön, aber es war real … und unentrinnbar. Es war so, wie die ganze Stadt ein halbes Jahr nach dem Verschwinden des Menschen sein wird. Es ist der Keim ihres Untergangs.
Ach, er ist halt müde, hat ein bißchen den cafard, den Moralischen. Diese Trübung seines Realitätssinns kommt ja nur davon, daß er zu lange aufgewesen ist, kommt von der anstrengenden Kletterei den Schotterdamm hinauf und von dem angenehm-schrecklichen Prickeln, diesem Selterswasser in seinem Blut …
Guttmann friert. Er geht eilig auf den wartenden Polizeiwagen zu, dessen Fahrer vor sich hin döst und dessen Radio vorschriftswidrig auf Musik gestellt ist. Da wird ihm klar, daß LaPointe nicht bei ihm ist. Er dreht sich ungeduldig um und sieht LaPointe mit geschlossenen Augen an dem Drahtzaun stehen. Als Guttmann zu ihm geht, macht LaPointe die Augen auf und reibt sich die Oberarme, als wolle er den Blutkreislauf wieder in Gang bringen. Noch ehe Guttmann fragen kann, was denn los sei, brummt der Lieutenant: »Kommen Sie. Wir können doch nicht die ganze Nacht hier rumstehen! Es ist kalt, verdammt noch mal!«
Sie sitzen, als einzige Gäste, in einer Nische im rückwärtigen Teil des A-One-Café. Als sie hereinkamen, begrüßte LaPointe den Wirt, einen alten Chinesen: »Wie geht's denn, Mister A-One?«
Der Chinese gackerte: »Na, prima – immer vorn dran.«
Guttmann hat Gruß und Erwiderung für althergebrachte Floskeln gehalten, einen rituellen Scherz, den beide schon seit Jahren miteinander treiben.
Ohne nach ihren Wünschen zu fragen, hatte der alte Mann ihnen zwei Tassen Kaffee gebracht, ein dickes, ungenießbares Gebräu, den Bodensatz vom Nachmittag. Dann hatte er sich wieder ans Fenster gestellt, reglos, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen blicklos durch das Fenster richtend.
Die nackte Birne schräg über seinem Kopf vertieft die Furchen und Runzeln in seinem Gesicht. Seine Augen zwinkern nicht.
LaPointe kuschelt sich in seinen Mantel und runzelt nachdenklich die Stirn, während er langsam in seinem Kaffee rührt, obwohl er gar keinen Zucker hineingetan hat.
An der Wand neben Guttmanns Kopf hängt ein bunt bestickter Behang, der einen Vogel mit einem langen Schwanz auf dem Zweig eines Baumes darstellt, der Blumen aller Arten trägt. Und gleich daneben das Bild eines drallen Mädchens im Badeanzug, das züchtig darüber nachsinnt, was es wohl für Folgen hätte, wenn sie die von einer markigen Männerfaust ihr hingestreckte Colaflasche ergreifen würde.
A VEC C OKE Y A D ' LA J OIE !
Guttmann unterdrückt ein Gähnen, bis ihm die Tränen kommen. »Nicht viel los hier«, sagt er leichthin. »Frag' mich nur, warum der die ganze Nacht auf hat.«
LaPointe schaut auf, als hätte er den jungen Mann ganz vergessen: »Ach, wenn man alt ist, braucht man nicht viel Schlaf. Er hat keine Frau. Ich glaube, so werden ihm die Nächte nicht so lang.«
Zum erstenmal fragt sich Guttmann, ob LaPointe wohl eine Frau hat. Er kann sich das nicht vorstellen, kann ihn sich nicht beim
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