Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
ja nicht dabeihaben, als er Ihnen seine Bleibe zeigte. Und später haben Sie ihm gesagt, Sie würden den andern nichts davon erzählen. Was hat das eigentlich zu bedeuten?«
LaPointe sieht dem jungen Mann prüfend ins Gesicht. Kann man so was einem Jungen erklären, der seine Menschenkenntnis aus der Soziologievorlesung hat? Wie würde sich das mit seinen Vorstellungen von Gesellschaft und Demokratie zusammenreimen? LaPointes Entschluß, es ihm zu erzählen, hat etwas von einem Strafgericht.
»Sie erinnern sich an Dirtyshirt Red gestern abend? Sie erinnern sich, daß er an dem Vet kein gutes Haar gelassen hat? Jeder Penner auf der Main schläft, wo er kann: Toreinfahrten, in Seitengassen, hinter den Marmorplatten der Friedhofsteinmetzen. Und alle sind sie neidisch auf die schnuckelige Privatbleibe, mit der der Vet egalweg angibt. Sie hassen ihn, weil er sie hat. Und gerade so will es der Vet. Er will, daß man ihn verachtet, ihn haßt, sich das Maul über ihn zerreißt. Denn so lange, wie ihn die anderen Tramps verachten und verstoßen, gehört er nicht zu ihnen, ist er was Besonderes. Kapieren Sie das?«
Guttmann nickt.
»Gut –« LaPointe ist heiser vor Müdigkeit und spricht ganz ruhig: »Als wir Sie auf dem Pfad zurückließen, folgte ich ihm über ein Gleis, das ich kaum erkennen konnte. Aber da war nichts. Keine Bude, keine Hütte, nichts. Dann ging der Vet hinter einen Busch und bückte sich. Ich hörte ein Kratzen auf Metall. Er schob ein Stück Wellblech zur Seite, das ein Erdloch bedeckte. Ich trat an den Rand, da sprang er hinein oder vielmehr glitschte an den schlammigen Wänden ins Loch hinab. Es war etwas zwei Meter fünfzig tief, und der Boden war mit Lumpen und Sackleinwand ausgelegt, die unter seinen Füßen vor lauter Sickerwasser quietschten. Auf ihnen standen ein paar Kisten zum Draufsetzen und um sein Zeug unterzubringen. In einer dieser Kisten fummelte er herum und fand in ihr die Brieftasche. Dann wieder raus aus der Grube. Die Wände waren verschlammt, und er glitschte zweimal wieder runter und fluchte. Schließlich kam er raus und übergab mir die Brieftasche. Dann schob er das Wellblech wieder über die Grube. Als er sich aufrichtete und mich anschaute – ich weiß nicht, wie ich das erklären soll –, sprachen Scham und Wut aus seinen Augen. Er schämte sich, in einem solchen Schlammloch zu wohnen. Und er war wütend, daß jemand das wußte. Wir sprachen 'ne Weile darüber. Er war stolz auf sich. Ich weiß, das klingt verrückt, aber so war es. Er schämte sich seines Loches, aber er war stolz darauf, daß er es ausfindig gemacht hatte. Ich glaube, man könnte sagen, er war stolz darauf, das Loch gegraben zu haben, und er schämte sich, daß er es brauchte. So in der Art etwa.
Vor ein paar Jahren war er nachts besoffen gewesen und hatte sich umgeschaut, wo er sich verstecken konnte, wo die Polizei ihn nicht wegen Trunkenheit und Ruhestörung mitnehmen konnte. Da fand er zwischen ein paar Büschen dieses Loch. Später dachte er darüber nach und hatte eine großartige Idee. Er ging nachts noch einmal mit einem Spaten hin, den er irgendwo geklaut hatte, und arbeitete an dem Loch. Er machte es tiefer und die Wände senkrecht. Und immer, wenn die Wände beim Rein- und Rauskriechen abbröckeln, arbeitet er weiter daran. So wird das Loch immer größer. Es regnet hinein, Wasser sickert nach, und er tut immer wieder Säcke und Lumpen auf den Boden, die er irgendwo aufgelesen hat. Eine hübsche kleine Falle, die er sich da gebaut hat.«
»Eine Falle, Sir?«
»Genau das ist es. Er hat Angst, man liest ihn irgendwo besoffen auf, steckt ihn in eine Zelle und läßt ihn schreien. Deshalb kauft er jedesmal, wenn er glaubt, er hat so viel Wein intus, daß es gefährlich werden könnte, noch 'ne Flasche und nimmt sie mit in seine Bleibe. Dort kann er trinken bis zum Geht-nicht-Mehr. Da unten ist er sicher. Selbst wenn er nüchtern ist, fällt es ihm schwer, die schlammigen Wände hochzuklettern. Wenn er besoffen ist, ist das ganz unmöglich. Er stellt sich selber eine Falle, um sich davor zu schützen, daß man ihn festnimmt und einsperrt. Natürlich leidet er an Raumangst und gerät darum manchmal in Panik. Wenn sein Hirn vom Wein benebelt ist, glaubt er, die Wände fallen ihm auf den Kopf. Und er hat einen Riesenbammel, ein Unwetter könnte die Grube unter Wasser setzen, wenn er gerade zu betrunken ist, um rauszukommen. Da unten ist es schlimm, wissen Sie. Wenn er betrunken ist, kann er zum
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