Ein Highlander zu Weihnachten
fragen. Wenn es seinem Volk gelänge, diese Energie so zu beherrschen wie Claires Volk, dann wäre sie eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Engländer. Als er sich Hundertschaften von Clankriegern vorstellte, die mit Schockpistolen auf arglose Sassenach zielten, musste er grinsen.
Die Kutsche nahm mit widerstrebend quietschenden Rädern Fahrt auf. Während sich das Geschaukel zu holprigen Stößen steigerte, musterte er seine Mitreisenden und betrachtete ihre so unterschiedlichen Gesichtsfarben: von apfelbackig und rotnasig bis nahezu pechschwarz. Und das Verstörende war, dass nur wenige ihm oder seinen Landsleuten ähnlich sahen.
Claire war offenbar aufgefallen, dass er unheilvolle Blicke mit einem milchkaffeebraunen Jugendlichen wechselte, der schwankend mit einer Hand am Haltegriff hing. Die Hosen rutschten ihm fast vom Hintern. Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen an: »Es ist unhöflich, jemandem in die Augen zu sehen.«
Was war das für eine Narretei? »Wieso?«
»Ist es eben.«
Diese Menschen waren zu sonderbar. Einem Mann in die Augen zu schauen, war doch oft die einzige Möglichkeit, seine Absichten zu ergründen und unter Fremden den Freund vom Feind zu unterscheiden. Und irgendjemand musste sich doch dieses armen Bengels annehmen, ihm die paar Heller für einen Gürtel leihen, bevor ihm das magere Hinterteil ganz abfror. Hätte Cam nur ein wenig Kleingeld gehabt, so hätte er dem Jungen sicherlich davon abgegeben.
Räder kreischten, unsichtbare Hände zogen die Bremsen an, und ihre Kutsche wurde langsamer. Ohne darüber nachzudenken, legte Cam einen Arm um Claire, damit sie nicht zur Seite geschleudert wurde. Als sie anhielten, strömten Passagiere heraus und herein. Eine hochschwangere Frau mit Paketen in beiden Armen kam herein, und Cam stand auf und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie solle neben Claire Platz nehmen. Die Frau strahlte ihn an. Ehe sie jedoch zu seinem Sitz gelangen konnte, drängte eine Gruppe Jugendlicher in den Wagen und schubste sämtliche Umstehenden zur Seite. Einer von ihnen entdeckte den freien Platz neben Claire und steuerte darauf zu. Cam vertrat ihm den Weg. »Der ist für die Dame.«
Dem Bengel war offenbar nicht klar, in welche Gefahr er sich gerade begab. Er blickte zu Cam auf und verzog das Gesicht, wobei er eine Hand in die Hosentasche gleiten ließ, vielleicht um nach einem Messer zu greifen. Dann streckte er sich und fragte höhnisch: »Wer sagt das?«
Neben Cam zischte Claire: »Cameron!«
Cam bedeutete ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. Mit einem Blick fasste er den dreisten, ungezogenen Bengel ins Auge. »Ich sage das.«
Die Augen des Jungen wurden schmal, und er bewegte die Hand in der Hosentasche, während er Cam mit Blicken maß. Es dauerte einen Augenblick, aber dann wandte er schließlich die Augen ab, zuckte mit den Achseln und ging mit gemächlich wiegendem Schritt zu seinen Gefährten zurück, die ihn lachend in die Seiten stießen.
Cam war fassungslos. Zuerst griff eine Bande Claires Geschäft an, und jetzt das. Wo zum Teufel steckten die Väter? Es müsste sich doch einmal jemand dieser jungen Knaben annehmen und sie gründlich Mores lehren.
Jemand zupfte ihn am Ärmel. Claire stand neben ihm und sagte: »Wir steigen an der nächsten Haltestelle aus. Komm.«
Sie drängelte sich durch die dichte Menschenmenge bis zur Tür. Als sie aufging, sprang sie die Stufen hinunter und stolperte beinahe der Länge nach in eine Schneewehe.
Er stützte sie und fragte: »Alles in Ordnung?«
»Nichts ist in Ordnung! Du hättest eben draufgehen können! Hast du nicht gesehen, dass der Kerl ein Messer hatte? Das war ein Bandenmitglied, er hatte eine Träne eintätowiert. Das bedeutet, dass er jemanden umgebracht hat.«
»Claire, Mädchen, errege dich doch nicht so deswegen.« Er schob seinen linken Ärmel hoch und entblößte das etwa dreißig Zentimeter lange Messer, das er aus ihrer Küchenschublade stibitzt und an seinen Unterarm gebunden hatte. »Ende gut, alles gut, nicht?«
Claire starrte erst das Messer einen Moment lang mit offenem Mund an, dann ihn. »Ich glaube das einfach nicht.«
Sie schimpfte etwas über Unheil, Banden und Männer vor sich hin, wandte sich dann ab und stapfte davon. Völlig verdattert rief er ihr nach: »Was ist? Was habe ich denn getan?«
Claire wirbelte herum, zog die Schultern hoch und warf die Arme in die Luft, als sei er die glückloseste Kreatur unter der Sonne. Er war sich unsicher, weshalb. Schließlich
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