Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
über seinen Rücken und an den Hinterbeinen hinunter. Der Hengst stand vollkommen still, und Estella war hochzufrieden mit seinen Fortschritten. Sie wünschte, Marty wäre da und könnte alles beobachten. Angespornt durch ihren Erfolg warf sie den dünnen Ast fort und ließ die Hand leicht über Stargazers Rücken gleiten. Als er nicht reagierte, massierte sie ihn sanft an Hüfte und Lenden. Einmal stampfte er mit einem Hinterhuf auf den Boden, doch Estella war sicher, dass es nur ein Reflex gewesen war, und hielt gerade lange genug inne, bis der Hengst wieder still stand.
Sie ahnte nicht, dass Mai sie vom Fuß des Hügels aus beobachtete. Mai war fasziniert von dem, was Estella tat. Wie alle Aborigines nannte sie Stargazer nur wirangi, das verrückte Pferd. Die Aborigine-Kinder hatten schreckliche Angst vor ihm. Wenn sie in die Nähe seiner Koppel kamen, jagte er sie schnaubend und zähnebleckend fort. Dass Estella nun auf der Koppel stand und wirangi berührte, bewies Mai, dass die neueTierärztin über besondere Kräfte verfügen musste, ähnlich wie der Medizinmann der Stämme, der kadaicha. Der einzige andere Mensch, vor dem Mai ähnlichen Respekt gehabt hatte, war ihr Mann Ross gewesen.
Estella war bester Laune, als sie mit Mai und Binnie, ihren neuen Bewunderinnen, durch die Stadt ging. Sie hatte Stargazer gründlich gebürstet und ihn auf seiner Koppel herumgeführt. Der Hengst war noch immer unsicher gewesen, ob er den Abhang hinuntergehen sollte, doch Estella hatte beschlossen, Stargazer am nächsten Morgen zu seinem neuen Domizil zu bringen.
»Einen Moment, Estella!«, rief Marjorie Waitman von der Tür des Postamts her.
»Guten Morgen, Mrs. Waitman!«, erwiderte Estella mit strahlender Miene.
Marjorie sah sie verwundert an; schließlich hatte Estella ihrer Meinung nach kaum Grund zur Zufriedenheit. »Ich habe einen Brief für Sie – aus Chelsea in England.«
Estella freute sich, spürte jedoch, dass Marjorie sie aushorchen wollte, und bemühte sich um eine unbewegte Miene. »Vielen Dank. Ich werde den Brief gleich mitnehmen, wenn es geht.«
»Ja, natürlich«, gab Marjorie zurück. »Fast alle Leute in der Stadt holen sich ihre Post selbst ab, mit Ausnahme von Dan Dugan. Er hat meist zu viel zu tun, oder er ist verkatert.«
Marjories boshafte Bemerkung erstaunte Estella. Sie bat Mai und Binnie zu warten und folgte Marjorie in das Gebäude, das früher den Jockey-Club beherbergt hatte. Ihr war nicht entgangen, dass Marjorie die Aborigine-Frau und das Mädchen mit einem missbilligenden Blick gestreift hatte – und das bedeutete, dass sie niemals gute Freunde sein würden.
Der Postschalter stand an der einen Seitenwand des Raums. An der anderen stand ein kleiner Tresen, der als Bankschalter diente. Marjorie ging hinter den Postschalter.
»Ich nehme an, in England ist es im Moment sehr kalt«, sagte sie, während sie den Brief aus einer Nische in der Wand nahm. Sie setzte ihre Brille auf und betrachtete eingehend die Briefmarke. Obwohl Estella genau das erwartet hatte, ärgerte sie sich dennoch darüber. »Ja, das glaube ich auch«, gab sie zurück, entschlossener denn je, nicht zu verraten, von wem der Brief stammte. Sie streckte die Hand danach aus, doch Marjorie beachtete es nicht.
»Ich komme aus Dartmouth. Kennen Sie die Stadt zufällig?«
»Ich bin noch nicht dort gewesen, aber es ist ein kleiner Hafen im Südwesten Englands, nicht wahr?«
»Ja, in Devon. Ich erinnere mich noch gut an die harten Winter, aber jetzt bin ich schon lange in Australien. Woher stammt Ihre Familie?«
Estella zögerte einen Augenblick. »Aus London«, sagte sie dann.
»Und die Familie Ihres ... Mannes?« Marjorie warf einen viel sagenden Blick auf den Ring an Estellas Finger.
Diese blickte auf ihre linke Hand und erschrak. Sie hatte den Ring anfangs abgenommen, ihn wegen ihrer Schwangerschaft dann aber wieder übergestreift, ohne zu ahnen, in was für ein Dilemma sie sich dadurch brachte. »Könnte ich jetzt bitte meinen Brief haben, Marjorie? Ich muss arbeiten und möchte Mai und Binnie nicht zu lange warten lassen.«
Marjorie starrte auf den Brief, der keinen Absender trug, und reichte ihn schließlich zögernd seiner rechtmäßigen Besitzerin. Die Enttäuschung war ihr deutlich anzusehen. »Ich an Ihrer Stelle würde die beiden fortschicken«, sagte sie und deutete zum Fenster, durch das man Mai und Binnie sehen konnte.
»Warum?«
Marjorie zog eine Augenbraue hoch. »Das fragen Sie noch? Weil sie alles,
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