Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
gehört, Charlie und Ross seien einander sehr nah gewesen.«
Phyllis nickte. »Unzertrennlich, wie man es selten erlebt. Wenn Ross nicht gerade draußen auf den Farmen war, um kranke Tiere zu behandeln, steckten die beiden immer zusammen.« Sie wurde ernst. »Die letzten Monate waren für uns alle schwer, weil die Stadt so klein ist und Ross so plötzlich starb. Aber Charlie hat es natürlich besonders getroffen.«
»Was für ein Mensch war Ross?« Estella spürte, wie ihreNeugier mit jedem Tag wuchs, genau wie das Baby in ihrem Leib, das ihr eines Tages eben diese Frage stellen würde.
Phyllis’ Blick wurde weich, und auf ihren schmalen Lippen erschien ein leichtes Lächeln. »Er war ein guter Mensch, aber er hatte seine Schwächen.«
»Welche, zum Beispiel?«
»Er war oft sehr melancholisch. Ich glaube, es lag an der Einsamkeit. Er war ein Grübler und stiller als Charlie, aber das kann man von den meisten Leuten hier behaupten. Trotzdem besaß er einen ausgeprägten Sinn für Humor und hat oft lustige Geschichten über Tiere erzählt. Er sprach von ihnen, als wären es Menschen.«
»Das verstehe ich gut«, erwiderte Estella. »Tiere haben alle ihre ganz eigene Persönlichkeit.«
»Seltsam, das hat Ross auch immer gesagt. Er konnte sich mit Tieren auf eine Art und Weise unterhalten, wie ich es nie zuvor gesehen hatte – und auch nie wieder sehen werde, da bin ich sicher. Übrigens ist das mein erster Besuch in diesem Haus nach seinem Tod. Eigenartig, in seiner Küche zu stehen, ohne dass er jeden Moment zur Tür hereinkommt!« Sie blickte sich um. »Ich kann seine Gegenwart noch spüren.«
Estella erschrak. »Lassen Sie das nur nicht Mai hören! Sie glaubt allen Ernstes, Ross’ Geist wäre in einem Dingo wiedergekehrt.«
Phyllis blickte Estella an, als würde sie diese Aussage ernst nehmen. »Aborigines haben eine sehr starke Verbindung zu diesem Land und den Tieren. Tun Sie nicht alles als Unsinn ab, was sie sagen.«
»Aber diese Vorstellung ist lächerlich! Ich kann sie nicht ernst nehmen!«
Phyllis lächelte. »Wenn Mai fest daran glaubt, kann nichts, was Sie tun, ihre Überzeugung ins Wanken bringen. Ross hat das gewusst. Ich glaube, deshalb ist er so gut mit den Aborigines zurechtgekommen. Er hat sich Mühe gegeben, ihreDenkweise zu verstehen. Wahrscheinlich würden Sie mehr erfahren, wenn Sie sein Tagebuch lesen. Haben Sie es schon gefunden?«
Estella starrte Phyllis verwundert an. »Nein, ich habe kein Tagebuch gesehen.«
»Es muss hier irgendwo sein. Ross hat ständig darin geschrieben.«
»Vielleicht ist es in seinem Zimmer. Charlie drängt mich, seine Sachen durchzusehen, aber bisher habe ich es noch nicht getan.«
»Interessant, dass er Sie darum bittet!« Phyllis schnalzte mit der Zunge. »Dad würde es auch tun, wenn Charlie sich nicht dazu durchringen kann.«
»Nein, lassen Sie nur. Ich bin hier und habe Zeit genug, und es macht mir wirklich nichts aus.«
Phyllis nickte. »Und wie war es draußen in Langana Downs?«
Estella wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
»Wie ich hörte, war Teddy während der Versammlung vor ein paar Tagen ziemlich wütend auf Sie. Deshalb überrascht es mich, dass Sie mit dorthin geflogen sind«, erklärte Phyllis.
Estella nickte. »Um ehrlich zu sein, hätte ich den Flug nicht unternommen, wenn Teddy nicht krank wäre. Leider hat er sich bei seinen Rindern mit Brucellose angesteckt. Annie gab mir die Erlaubnis, mir die Tiere anzusehen, und ich konnte ihr und dem Verwalter ein paar Ratschläge geben, was zu tun ist. Mit Teddy habe ich auch kurz gesprochen, aber er schien nicht sehr glücklich, mich zu sehen. Er will von seiner Krankheit nichts wissen, denn er macht sich Sorgen, dass die Belastung für Annie zu groß sein könnte. Aber ich glaube, sie ist stark genug, um damit fertig zu werden.«
»Die Farmer sind oft sehr starrsinnig, und es fällt ihnen sicher nicht leicht, von einer jungen Frau Ratschläge anzunehmen. Um ehrlich zu sein, Estella, es wundert mich, dass Sie ausgerechnet in einer Stadt wie Kangaroo Crossing lebenmöchten. Wäre Dad nicht allein stehend, wäre ich längst fort.«
Estella hatte den Eindruck, dass Phyllis sich eingesperrt fühlte. Zögernd erklärte sie: »Ich bin eine unerfahrene, aber gut ausgebildete Tierärztin. Es war ein großer Glücksfall für mich, ein Angebot für eine Praxis zu bekommen – mitsamt einem Haus und allem, was ich sonst brauche.« Besonders, nachdem ich ohne Geld und heimatlos auf der Straße
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