Ein Hueter erwacht
war, war ihm geblieben, und er vermochte es zu nutzen wie eine endlose Schrift. Er erkannte sich als das wieder, was er vor langer Zeit - noch vor seinem Dasein als Hüter - gewesen war: ein Hoher! Ein Wesen, dessen Macht die eines jeden der Alten Rasse übertraf.
Wo bin ich?
Auch auf diese Frage fiel ihm die Antwort leicht. Er hatte geruht, in seiner ureigenen Kammer in der Heimstatt der Hüter, und dort würde er sich unverändert wiederfinden - wenn er erst die Kraft gefunden hatte, die Augen zu öffnen.
Warum bin ich erwacht?
Wieder glaubte er die Antwort zu kennen. Denn auch sie war Teil seines Wissens. Daß sein Schlaf jetzt endete, konnte nur eines bedeuten: Die Hohe Zeit war gekommen .
Ein Knirschen, als bräche Fels entzwei, störte unvermittelt seine Gedanken. Dann wiederholte sich der Laut, und noch einmal - - in jenem Rhythmus, in dem der Hohe, unbewußt erst und nun willentlich, seine Finger krümmte. Seine Gelenke knackten, als wären sie morsch - die seiner Finger und Hände ebenso wie die seiner Beine, als er den Versuch wagte, sie zu bewegen.
Nach einer Weile, als müßte er noch Kraft sammeln für den vergleichsweise geringen Akt, schlug er die Augen auf. Wie sprödes Leder rieben die Lider über die Augäpfel.
Und dann sah er, nach ungezählten Jahrtausenden zum ersten Mal wieder, und im wörtlichen Sinne augenblicklich wußte er, daß etwas - falsch war!
Obwohl seine Kaverne selbst sich nicht verändert hatte in den vielen Jahrtausenden, spürte der Hohe die Veränderung, die draußen vorgegangen war, ohne sie indes zu sehen. Im fahlen Schein der schimmernden Adern, die den Fels der Decke und Wände seiner Kammer durchwirkten, erhob er sich von seinem Lager - auf dem er noch sehr lange Zeit hätte ruhen sollen .
Aber etwas hatte die Ruhe der Hohen im Ararat gestört, weit vor der Zeit, die ihnen als die des Erwachens bestimmt war .
Der Hohe trat aus seiner Kammer hinaus auf den Gang, der in den Dunklen Dom mündete. Mit sehnigen Fäusten brach er das Siegel, das den Gang verschloß. Ungeduld und Unruhe trieben ihn zur Eile, genährt von Fragen ohne Antworten: Was war geschehen? Und -waren noch andere erwacht wie er?
Die Stille des Todes empfing den Hohen - und ein Anblick, der selbst ihm, der er einst als Gott verehrt worden war und ein ganzes Volk gegründet hatte, tief ins kalte Herz schnitt!
Der Dunkle Dom war - zerstört. Vernichtet. Die Heimstatt der Hüter war unwiederbringliche Vergangenheit.
Tiefe Klüfte spalteten den Boden des Felsendomes. Tonnenschwere Gesteinsbrocken hatten sich unter Urgewalt aus den steilaufragenden Wänden gelöst, türmten sich zu riesenhaften Haufen. Hier und da entdeckte der Hohe Spuren geschmolzenen Felses, die im Laufe der Zeit wieder erstarrt waren.
Wie selbst zu Fels erstarrt stand der Hohe am Rande des einst so gewaltigen Rundes. Die Zeit schien stillzustehen, die Welt draußen sich nicht länger zu drehen. Kein Schrei, keine Regung hätte Ausdruck des Entsetzens sein können, als dessen Gefangener der Hohe Mann sich fühlte. So blickte er stumm und starr auf das Ausmaß der Verwüstung - und sah im Geiste doch etwas gänzlich anderes: Das Ende aller Verheißung - noch ehe es wirklich begonnen hatte .
Was war die Ursache für den Untergang des Dunklen Domes?
Der Hohe fand keine Antwort. Auch deshalb nicht, weil ihn eine andere Frage mehr beschäftigte: Was war mit den anderen? Mit seinen einstigen Nachfolgern im Amt des Kelchhüters, die sich nach tausend Jahren wie er hierher zurückgezogen haben mußten, um gemeinsam schlafend auszuharren, bis ihre Zeit des Erwachens gekommen wäre .
Er riß sich los vom Bild der Zerstörung und wandte sich der nächstliegenden Kammer zu. Wie Metalldornen gruben sich seine Finger in das Siegel, zerrissen es. Vier, fünf energische Schritte brachten ihn durch den dahinterliegenden Gang in die Kammer - - seines Bruders Schamasch.
Der Erwachte kannte dessen Namen wie seinen eigenen, wußte um die Verbindung, die zwischen ihnen bestand.
Und er wußte, sah, weshalb Schamasch nicht erwacht war wie er. Und es wohl nie tun würde .
Die Kaverne Schamaschs war zerstört wie der Dom selbst. Herabstürzende Gesteinsmassen waren zum Grabhügel dieses Hohen Mannes geworden. Nur sein Schädel lag noch frei - oder das, was einmal Schamaschs Haupt gewesen war .
Ein Felsbrocken hatte ihm Gesicht und Schädelknochen zertrümmert. Die längst krustig gewordenen Reste klebten einer dunklen Patina gleich am Stein ringsum.
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