Ein Hueter erwacht
Und sein Hoher Bruder mußte feststellen, daß ein toter Gott nicht minder stank als ein lange verreckter Mensch .
Dennoch - auf seltsame Weise glich Schamaschs Leichnam doch nicht dem eines Menschen. Er wirkte auf seinen erwachten Bruder, als weigerten sich Fäulnis und Verwesung, den Körper zu verzehren. Gerade so, als wohnten dem zerschlagenen Leib noch immer Kräfte inne, die seinen Zerfall verhinderten, und mehr noch: die ihn ... wiederherstellten, mühsam und unendlich langsam?
Weder Schmerz noch Trauer beseelten den Hohen, als er sich ruckartig abwandte und hinaus in den Dom stürmte. Nur Wut trieb ihn an, unbändiger Zorn, der kein Ziel fand, weil der Hohe nicht wußte, was geschehen war - wen er für all das zur Rechenschaft ziehen konnte!
Nach und nach drang er in die weiteren Schlafkammern der einstigen und künftigen (denn die Zeit der Hüterschaft konnte noch nicht vorüber sein!) Hüter ein, soweit nicht unbewegliche Felsmassen ihm den Weg verwehrten. Doch überall bot sich ihm ein ganz ähnliches Bild wie in der Kaverne von Schamasch .
Er selbst schien der Einzige zu sein, der den Untergang des Dunklen Domes überstanden hatte.
Doch konnte die Vernichtung der Heimstatt nicht der Grund gewe-sen sein, aus dem er erwacht war. Alles wies darauf hin, daß die Zerstörung schon einige Zeit zurücklag, vielleicht schon Hunderte von Jahren. Was also war es, das ihn geweckt hatte? Was oder - wer?
Die Frage zog unweigerlich neue nach sich, und eine schien dem Hohen drängender als die andere.
Wie stand es um die Alte Rasse, wenn den Hütern in ihrem eigenen Sanktuarium ein solches Schicksal widerfahren war? Gab es überhaupt noch einen Kelchhüter, der sich des Wohles der Vampire annahm? Oder waren auch draußen unerwartete Entwicklungen vorgegangen?
Der Hohe Mann wußte so vieles. Alles über den vorgesehenen Werdegang der Alten Rasse war ihm in dem Moment, da er den Kelch einst abgetreten hatte, offenbart worden. Doch die Zerstörung des Domes, die Vernichtung der Hüter waren nicht Teil dieser Verheißung gewesen .
Der Erwachte brauchte Antworten. Und er wußte, wie er sie bekommen konnte: Das Unheiligtum ihrer Rasse würde sie ihm verraten - oder zumindest den Weg weisen zum Verwalter des Grals. Wenn es ihn denn noch gab . Der Hohe bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor.
Der Weg aus dem Dom, den er vor Jahrtausenden gegangen und gekommen war, existierte nicht mehr. Was immer die Heimstatt vernichtet hatte, es hatte auch den Pfad der Hüter verschüttet - dafür aber einen neuen geöffnet. Der Hohe fand und ging ihn - ohne zu wissen, daß ihn kürzlich erst auch jene genutzt hatte, die letztlich die Zerstörungen und sein Erwachen ausgelöst hatte: Nona, die Werwölfin. 3
Endlich verließ der Hohe das gewaltige Grab, zu dem der Dunkle Dom den Seinen geworden war, und mächtige Schwingen trugen ihn schließlich hinauf zu den Gipfeln des Ararat.
Dort angelangt rief er, inmitten von Schnee und Eis stehend, den Lilienkelch!
Er tat es mit der Stimme eines Sturmes, die über jede Entfernung trug, ohne von eines Menschen Ohr gehört zu werden und doch so machtvoll war, daß das Firmament selbst darunter erbebte. Die nachtdunklen Wolken über dem Berg gerieten in brodelnde Bewegung. Energien entluden sich donnernd in einem Gewitter, wie kein Mensch es je gesehen hatte. Purpurne Blitze fuhren vom Himmel herab und hüllten den Hohen Mann in knisternde Elmsfeuer. Seine Wille bündelte das Licht und zwang es über seine vorgestreckten Arme, bis hin in die geballten Fäuste, und dort entstand - - der Kelch.
Als Projektion aus purpurfarbenem Licht bebte er im Griff des Hohen - und wies ihm die Richtung, in der das Original zu finden war. Ein gewaltiger Ruck, der einem Menschen die Arme aus den Schultern gerissen hätte, zerrte an ihm und dirigierte ihn.
Und dann - war es vorüber. So rasch, wie es begonnen hatte.
Der Blick des Hohen fiel in südöstliche Richtung. Er kannte nun seinen Weg. Wußte, wo die Antworten zu finden waren. Und er würde sie sich holen. Bald schon.
Er setzte den ersten Schritt. Und überwand Zeit und Raum. Jeder einzelne Schritt brachte ihn seinem Ziel um Meilen näher.
Denn seine Macht war nicht mehr nur die eines Hüters.
Sondern die eines - Gottes!
*
Ein Moloch wie Delhi kam nie wirklich zur Ruhe. Hier im alten Teil der Stadt, rund um die Chandra Chowk und gegenüber des Red Fort, war der Unterschied zwischen Tag und Nacht im Grunde nur am Himmel abzulesen, und
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