Ein Hummer macht noch keinen Sommer
ich nicht länger auf der Stelle treten will. Und: Ich bin realistisch, ich werde weder Gesangs- noch Schauspielunterricht nehmen. Und auch keinen Flamenco-Kurs an der Volkshochschule belegen. Ich werde mich nicht blamieren. Ich will nur …« Sie holte Luft und ließ den Satz dann unbeendet verhallen.
»Was wollen Sie nur?«
»Zur Ruhe kommen.«
»Warum möchten Sie keinen Unterricht nehmen? Es könnte Ihren Horizont erweitern.«
»Dieses ›Ich tue das nur für mich‹-Gerede ist so jämmerlich verlogen. Niemand töpfert eine Vase, um dann nicht auch Blumen hineinzustellen. Niemand schreibt einfach so zum Spaß, man will immer, dass es auch gelesen wird. Und zwar von möglichst vielen Leuten, am besten von Millionen. Jeder, der ein Vogelhäuschen schreinert, will, dass Vögel dort erscheinen, am besten ganze Schwärme, jeder Schauspieler braucht Publikum und Applaus, jeder Musiker will gehört werden. Am liebsten in der Carnegie Hall. So ist das.«
»Sie wollen sagen: Der Mensch möchte Erfolg haben?«, fragte Theodor.
Natalie richtete sich auf. »Ich will sogar sagen: Der Mensch muss Erfolg haben.«
»Sonst?«
»Sonst … geht es ihm schlecht.«
»Sie setzen sich enorm unter Druck. Tun Sie nie etwas nur aus Spaß?«
»Ich habe gewisse Ansprüche. An die Welt und an mich.«
»Welche?«
»Intellektuelle, ästhetische …« Natalie brach ab.
Theodor Silberstadt schien nicht beeindruckt. »Geben Sie mir Beispiele?«, fragte er freundlich.
»Ähm … Man sollte Effi Briest gelesen haben.«
»Haben Sie denn Fontane gelesen?«
»Selbstverständlich.«
»Und zur Ästhetik?«
»Ich verachte Leute, die sich ihr Wohnzimmer-Interieur mit einem Katzenkratzbaum verschandeln. Zum Beispiel.«
»Was hat Verachtung damit zu tun?«
»Und ich finde dicke Leute irgendwie lächerlich«, fuhr Natalie hastig fort, um die Frage nicht zu beantworten.
»Verachten Sie die auch?«
»Ja.«
»Wen noch?«
»Leute, die hirnverbrannte Ratgeberbücher schreiben. Wie fange ich das Glück? Wie finde ich einen Mann? Wie werde ich erfolgreich? Das ist alles so … banal.«
»Stichwort Erfolg«, sagte Theodor. »Was …«
»Und Leute, die hirnverbrannte Ratgeberbücher lesen, die finde ich auch verachtenswert«, unterbrach Natalie ihn. »Ich mag auch Leute nicht, die bei Facebook Fotos ihrer Hunde einstellen, obwohl ich Hunde gern mag. Verstehen Sie mich nicht falsch. Katzen mag ich nicht, sie sind verschlagen und dumm, und Katzenhalter verwechseln diese Dummheit mit Individualismus. Ich verachte auch Leute, die jetze sagen. Und Leute, die ihre E-Mails mit LG beenden. Und Leute, die …«
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass so viel Verachtung erst einmal aufgebracht werden muss?«
»Hm.«
»Also: Wie definieren Sie Erfolg?«
Schnaufend ließ Natalie ihren Kopf aufs rote Sofa zurücksinken. Sie war erschöpft. Sie wollte weinen. Warum, verdammt noch mal, heulte sie in letzter Zeit so viel? Wimperntusche und Lidschatten missachtend, rieb sie sich die Augen. Und dann fielen ihr noch all die Leute ein, die deutsche Schlagermusik und Kölner Karneval mochten und die in ihrem Auto ein Plüschtier am Rückspiegel hängen hatten. Die verachtete sie auch alle. Was hatte Theodor Silberstadt sie gerade gefragt? Erfolg? Wie definierte sie Erfolg? Natalie dachte einen Moment lang nach, verdrängte mühsam den Gedanken, dass sie auch die Protagonisten der zahlreichen Fremdschäm-Doku-Soaps verachtete: getauschte Muttis, gebrochene Herzen, madenfressende Möchtegernschauspieler, hässliche Köche, Insolvenzen …
»Frau Schilling, wie definieren Sie Erfolg?«
Natalie bekam kaum noch Luft. »Für die einfach Gestrickten ist eine gelungene Lasagne schon ein Erfolg«, antwortete sie mit erstickter Stimme. »Für andere ein gewonnener Krieg.«
»Und für Sie?«
Natalie zog die Nase hoch.
»Nehmen Sie sich ruhig ein Kleenex.«
»Ich bin verwirrt«, flüsterte sie und schnäuzte sich. Ihr kleiner Zeh begann wieder zu pulsieren. Dass ein so kleines Ding so große Schmerzen verursachen konnte. Sie erwog, Theodor von ihrem nächtlichen Fehlsitz zu erzählen, entschied sich aber dagegen.
»Was ist Ihnen so wichtig am Erfolg?«, fragte Theodor.
Natalie hätte am liebsten die Augen verdreht. Der ließ aber auch nicht locker, dieser Seelenklempner.
»Am Erfolg erkennt der Mensch, dass das, was er tut, einen Sinn erfüllt«, sagte sie und war recht zufrieden mit ihrer Antwort.
Sie schwiegen einen Moment.
»Ich habe Sie
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