Ein Hummer macht noch keinen Sommer
»Nicht!«, sagte sie dem Mann, der Anstalten machte, sich an ihren Tisch zu setzen. Sah sie so verzweifelt aus? Sie wollte ihre Ruhe haben und auf den Kurfürstendamm schauen. Der Mann ging mit beleidigter Miene fort, und Natalie bestellte sich noch ein Glas. Sie trank es genussvoll, während Leute hin und her liefen, die zweistöckigen Busse vorüberfuhren. Ach, es war schön, in Berlin zu leben. Obwohl, dachte Natalie, San Francisco wäre auch nicht übel.
Sie überlegte, ob sie noch ein Glas Champagner bestellen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie hatte genau den richtigen Zustand von Trunkenheit erreicht: warm bis in die Fußspitzen, prickelnd in den Blutbahnen, leicht im Herzen. Alles war auf einmal … nicht mehr so schlimm. Selbst der kleine Zeh hielt sich zurück. Vielleicht ist er ja abgestorben, dachte Natalie, und dann kicherte sie kurz. Sie war wohl dabei, eine verschrobene, exzentrische alte Schachtel zu werden. Doch bevor der Gedanke sie betrüben konnte, stand sie auf und zahlte.
Wind kam auf. Natalie atmete tief durch. Sie wollte immer noch nicht nach Hause gehen. Der Himmel war hellblau-schwarz marmoriert. Schön.
Natalie beschloss, ein wenig über den Ku’damm zu spazieren, in Richtung Gedächtniskirche, und von dort würde sie ein Taxi nehmen. Die Bewegung tat ihr gut. Sie machte große Schritte, es sah aus, als hätte sie es eilig. Gut, gut so, niemand würde sie ansprechen. Als sie die Gedächtniskirche erreicht hatte, setzte sie sich in eine Taxe.
»Janz schön windig, wa?«, sagte der Fahrer. »Wo soll’s denn hinjehn?«
Natalie zögerte. »Haben Sie einen Tipp?«
»Sind Se nich’ von hier?«, fragte er. »Wolln Se det Brandenburger Tor sehen?«
»Doch, doch«, beeilte sich Natalie zu antworten. So weit kam es noch, dass man sie für eine Touristin hielt. »Ich wohne in Berlin, aber ich dachte, Sie hätten eine Idee, was ich noch machen könnte.«
»Janz alleene, jetze?«
Nein! Nicht auch noch jetze jetzt.
»Ja. Janz alleene jetze«, antwortete Natalie verstimmt.
»Am Potsdamer Platz jibt et so een esoterischet Mittelalterfest. Haben Se davon nüscht jehört? Soll janz jut sein.«
»Ja, dann mache ich das.«
Natalie ließ sich in die Polster fallen, und der Fahrer trat aufs Gaspedal. Ob er einen Katzenkratzbaum in seinem Wohnzimmer stehen hatte? Natalie war sich geradezu sicher. Er hatte ja auch ein Duftbäumchen am Rückspiegel baumeln. Schon lag das KaDeWe hinter ihnen, und kurze Zeit später erreichten sie den Potsdamer Platz. Natalie zahlte und stieg aus.
Dort, wo alljährlich im Winter ein Weihnachtsmarkt stattfand, auf dem sich vor allem japanische und spanische Touristen tummelten, standen nun bunte Zelte, Papphäuschen und Buden voll okkultem Kram: Heilstein-Mobiles, Trinkbecher in Form von Totenschädeln (vermutlich nicht spülmaschinenfest), Engelchen aus Bergkristall, Wunschmünzen aus dem Land der Elfen. Natalie erzitterte voller Abscheu. Einige kleine Feuer brannten und wurden von Gestalten in mönchsartigen Kutten bewacht, die reglos wie Wachspuppen dastanden. Ab und zu sprangen Funken durch die Luft. Der Geruch von gebratenem Fleisch war überall. Aus einem versteckten Lautsprecher erklang fremdartige Musik: das Tröten einer Schalmei und herzschlagartiges Trommeln. Die Leute drängten sich, als hätten sie noch nie in ihrem Leben Fenchelbonbons oder Bratwürste gesehen.
Die im Hintergrund in den Himmel ragenden Wolkenkratzer bildeten einen krassen Gegensatz zu der merkwürdigen Atmosphäre, die Natalie immer mehr abstieß. Sie würde jetzt auf dem Absatz kehrtmachen, ins Ritz-Carlton-Hotel rennen, sich dort im Curtain Club an den Kamin setzen und hoffen, dass ihr Haar nicht allzu sehr nach Grillfleisch stank.
»Met! Met! Met!«, schrillte eine Frau aus einem der Pappbüdchen heraus. Es klang wie der Ruf eines brünstigen Vogels. Sind Vögel überhaupt brünstig?, fragte sich Natalie. Bestimmt gibt es ein anderes Wort dafür. Rollig, rauschig, ranzig? Ha, schon mal etwas von einer ranzigen Amsel gehört? Haha, vielleicht rossig oder … oh, sie fing schon wieder damit an, sich unnütze, überflüssige, lächerliche Gedanken zu machen. Natalie strich sich Haarsträhnen aus dem Gesicht. Was genau war Met überhaupt? Honigwein? Bestimmt widerlich süß und ein Garant für Kopfschmerzen. Nein, sie wollte lieber Champagner trinken. Im Ritz. Jetzt. Sofort.
»Met! Met! Met!«, rief die Frau wieder. Sie trug ein sackartiges Leinenkleid und ein Häubchen auf dem
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