Ein Hummer macht noch keinen Sommer
»erschießt mich!«
»Aber Maman!«
»Aber Herthalein!«
»Zum Teufel mit euch!«
Seit dieser denkwürdigen Auseinandersetzung im letzten Winter war das Thema Gehhilfe nicht wieder angesprochen worden. Hertha klapperte weiterhin mit ihrem geblümten Regenschirm über Berlins Bürgersteige, verscheuchte damit Tauben und Touristen, und einmal hatte sie sogar einen Taschendieb bedroht, oder jemanden, den sie dafür gehalten hatte.
»Bestimmt hat er nur Angst vor dem gelb-lila Blumenmuster gehabt«, war Davids Kommentar gewesen, nachdem sie die Geschichte ausführlich am Kaffeetisch erzählt hatte.
»Sprich nicht so zu meiner Mutter«, hatte Theodor ihn zurechtgewiesen.
»War doch nicht böse gemeint«, verteidigte sich David.
»Ruhe!«, rief Hertha dazwischen.
»Es war aber auch nicht nett gemeint.«
»Weißt du was, Theodor? Du bist ja total eifersüchtig!«
»Weißt du was, David? Du hast ja einen Knall!«
»Jetzt wird Käsekuchen gegessen!«, hatte Hertha gemeckert. »Und ich will nichts mehr hören!«
In Erinnerung an diese Szene musste Theodor lächeln. Sie war schon eine famose Person, seine Mutter. Aber eben auch recht eigen. Ich mich zur Ruhe setzen? »Haha«, machte Theodor. Das passte zu geblümten Regenschirmen. »Hahaha.«
Er würde jetzt irgendwo einen Kaffee trinken gehen, entschied er und schloss kopfschüttelnd das Fenster hinter sich. »Mich zur Ruhe setzen … ts, ts, ts.«
▶◀
Das Treffen von Natalie und Theodor im Gasthaus Lentz hatte mit einem Zufall nichts zu tun. Natalie sah Theodor aus der Haustür treten, beobachtete, wie er sich suchend umblickte, und hielt sich schnell ihre Handtasche vor das Gesicht. Als sie wieder hervorlugte, lief er geradewegs an ihr vorbei und betrat das Nachbarcafé.
Natalie wartete einen Moment, dann klemmte sie einen Geldschein unter das leer getrunkene Ramazotti-Glas und folgte Theodor ins Lentz . Möglichst unauffällig sah sie sich um. Da war er ja: Er saß an einem quadratischen Tischchen in einer verspiegelten Ecke. Gerade hatte er einen doppelten Espresso und Regensburger Würstchen bestellt und wollte nun offenbar eine Zeitung lesen.
»Ach, Herr Silberstadt!«, rief Natalie.
Theodor blickte auf. »Frau Schilling?«
»Ja, so ein Zufall.«
Für einen kurzen Augenblick sah er unendlich müde aus. Doch dann lächelte er und deutete mit seiner beringten Hand auf den zweiten Stuhl, der an seinem Tisch stand. »Bitte setzen Sie sich doch.«
»Darf ich denn?«, fragte sie kokett mit Schulmädchen-Timbre und fand sich selbst ein bisschen blöd.
»Aber natürlich. Ich bitte Sie.«
Oh, dachte sie. Oh, oh, oh .
Natalie bemühte sich, möglichst elegant Platz zu nehmen und sich weder das Knie noch einen weiteren Zeh irgendwo anzustoßen. Auch ihre Handtasche sollte nicht wieder mit einem peinlich klatschenden Geräusch von der Stuhllehne fallen, wie sie es gern tat. Geht doch, dachte Natalie, aber als sie nach der Speisekarte greifen wollte, warf sie den Salzstreuer um. Ihre Hände zitterten ein wenig. Theodor schien nichts zu bemerken. Er lächelte weiterhin freundlich.
»Sie wohnen auch gern in diesem Viertel, nicht wahr?«
»Ja.« Schnell stellte Natalie den Salzstreuer wieder hin. »Ich bin eigentlich nie versucht gewesen, woanders zu wohnen. Für ein paar Monate hatte ich mal eine Wohnung in Schöneberg, aber dort hat es mir nicht gefallen, na ja, irgendwie ist es nicht mein Pflaster gewesen. Aber die Akazienstraße, die ist recht stimmungsvoll, mit dem Café BilderBuch und der netten kleinen Buchhandlung. Und kennen Sie dieses hinreißende libanesische Restaurant, Habibi ? Es ist mehr ein Imbiss, aber sehr atmosphärisch, mit großen Fenstern, ich bin ganz süchtig nach Taboulé, und …« Um Himmels willen, red doch nicht so viel , hörte Natalie ein inneres Stimmchen und verstummte.
»Köstlich.« Theodor nickte. »Was sind eigentlich diese weißen Krümelchen darin? Ist das Couscous oder Bulgur?«
»Bulgur«, rief sie eifrig. »Man weicht ihn eine Viertelstunde in kaltem Wasser ein, nicht länger, denn der Weizen soll ja noch die Flüssigkeit der gewürfelten Tomaten aufnehmen, und …« Sie hielt inne.
»Interessant«, sagte Theodor, als sie nicht weitersprach.
Der Kaffee wurde gebracht, kurz darauf die Würstchen.
Natalie überflog die Speisekarte. »Ich hätte gern ein Chicorée-Gratin mit Roquefort und ein Mineralwasser«, teilte sie der Kellnerin mit.
»Es steht gar kein Chicorée-Gratin auf der Karte.« Die junge Frau sah
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