Ein Hummer macht noch keinen Sommer
murmelte er.
Auch Natalie hatte sich gerade die Büchershow angesehen. Zumindest ihren eigenen Auftritt. Total professionell, befand sie, man merkt mir überhaupt nicht an, dass ich Des Kreuzritters Braut sagenhaft blöd finde. Ein wirklich souveräner Auftritt. Nur die Schmetterlingsbluse kommt ein wenig kitschig daher. Das nächste Mal ziehe ich wieder etwas Einfarbiges an.
Das nächste Mal? Das wäre dann der Live-Auftritt für Wir lesen durch bis morgen früh. Würde sie sich wirklich vor eine Kamera stellen und behaupten, dass Sei glücklich – wünsch es dir jetzt! eine »wirklich große Lebenshilfe« sei, die »in keinem Bücherregal fehlen« dürfe?
Sie hatte sich noch nicht entschieden. Nur zur Sicherheit hatte sie die fünf Bücher neu gekauft. Jetzt starrte sie den schiefen Stapel, der auf ihrem Schreibtisch stand, hasserfüllt an und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, als hätte sie etwas schwer Verdauliches gegessen. Mit einem Seufzer schaltete Natalie den Fernseher aus, blieb einen Moment sitzen, dann ging sie zum Fenster und öffnete es. Wie eine leuchtende Himbeerpastille stand der Vollmond am Himmel.
Ob das ein guter erster Satz für einen Roman wäre?, fragte sich Natalie. Wie eine leuchtende Himbeerpastille stand der Vollmond am Himmel, und eine hübsche, nicht mehr ganz junge Frau schaute nach oben. Erinnerungen an ihren Vater kamen auf. Sie würde niemals den Mond ansehen können, ohne gleichzeitig an ihren Vater zu denken, denn …
Hey, das war ja gar nicht übel. Aber müsste es nicht heißen: »wie eine beleuchtete Himbeerpastille«? Jedes Kind wusste doch, dass der Mond von der Sonne beschienen wurde. Da wäre leuchtend nicht ganz korrekt. Und sie hätte gern gewusst, wie weit der Mond von der Erde entfernt war, nur so, um ein besseres Gefühl für ihre Aussagen zu erhalten. Natalie ging zu ihrem Schreibtisch, gab dem verhassten Bücherturm einen Stoß, was ihn aber nicht umkippen ließ, und fuhr den Laptop hoch. Dann tippte sie »Abstand Mond Erde« in die Suchmaschine, stieß auf unterschiedliche Zahlen, las etwas über die faszinierende Wirkung des Vollmonds auf den Menschen, erfuhr in einem weiteren Bericht, dass der Vollmond überhaupt keine Wirkung auf die Menschheit hätte, und dachte sich, dass das eigentlich alles völlig irrelevant für einen bonbonrosa Himbeermond war.
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Am nächsten Morgen eilte David durch die Torstraße. Er hatte eine Verabredung mit Rudolf Euter im Café Montague . Suchend glitt sein Blick über die Terrasse. Da hinten war ein hagerer, bärtiger Mann aufgestanden und winkte ihm zu.
Das muss er wohl sein, dachte David und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen und Stühlen hindurch. Erst im Näherkommen entdeckte er das rothaarige kleine Mädchen, das mit gelangweilter Miene am Tisch saß, eine weibliche Miniaturausgabe des Mannes, der David jetzt strahlend auf die Schulter klopfte und »Wie ich mich freue!« rief.
»Ganz meinerseits«, antwortete David und registrierte: heterosexuell, vital, sympathisch.
Rudolf Euter war gelernter Apotheker, vierundvierzig Jahre alt und geschieden. Seine Leidenschaft gehörte der Malerei und seiner kleinen Tochter Rose. Er fand, dass er Ähnlichkeit mit Vincent van Gogh hatte: derselbe kurze rote Bart, die nach hinten gekämmten Haare, markante Wangenknochen und ein intensiver Blick. Was die Malkunst anbetraf – hier war Rudolf realistisch –, gab es keine Ähnlichkeiten. Vincent war ein Gott. Er selbst war nicht begabt. Was anderen zuzufliegen schien, musste er sich hart erarbeiten. Obwohl er im Laufe seines Lebens zahlreiche Malkurse belegt hatte, war es ihm nie gelungen, auf befriedigende Weise eine Hand darzustellen. Immer sah sie unmenschlich aus, wie eine Pfote oder eine Vogelklaue, an ganz schlechten Tagen wie eine Baggerschaufel.
Seine Frau Linda hatte sich leider nicht als Muse entpuppt.
»Mach doch Fotos, das geht leichter«, hatte sie Rudolf geraten.
Im vergangenen Jahr hatte Linda die Scheidung gewollt. Kampflos hatte sie Rudolf das Sorgerecht für Rose überlassen und war mit ihrem neuen Freund, einem libanesischen Immobilienmakler, nach Bielefeld gezogen.
Rudolf Euter bestellte seiner Tochter eine weitere Holunder-Bionade und sagte: »Ihre Hummerbilder! Ich bin be-geis-tert. Nicht wahr, Rosie? Papi ist begeistert. Diese alles durchdringenden Farben sind geradezu hypnotisch. Mir ist tatsächlich ein ganz gewisser Grünton nicht aus dem Kopf gegangen. Und die magischen, mysteriösen,
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