Ein Hummer macht noch keinen Sommer
drüben. Und dort sehe ich mich stehen: gottverlassen und mutterseelenallein. Wobei, meine Mutter habe ich ja noch. Was für ein Glück. Manchmal ist sie mir allerdings ein bisschen … viel. Immer muss sie ihre Meinung sagen. Zur Ruhe setzen? Wie stellte sie sich denn das vor? Allein heute hatte das Notfalltelefon dreimal geklingelt, Heinz Schleyberger hatte einen Flirt mit einer anderen Frau begonnen ( Sibülle ), Natalie Schilling war auch noch nicht über den Berg, und ein weiterer Klient, ein Schriftsteller, litt unter Schreibblockaden und Schlafstörungen.
Es musste trotzdem wunderbar sein, einer künstlerischen Tätigkeit nachzugehen. Theodor rieb sich das Kinn. Bildhauer hätte er werden sollen oder Fotograf. Vielleicht hätte er dann schon längst seine Altbauwohnung verkauft und wäre zum Prenzlauer Berg gezogen, und vielleicht wäre es dann auch besser mit David gelaufen? Aber es war doch gut mit David gelaufen. Viele glückliche Jahre lagen hinter ihnen, sie hatten immer so viel gelacht. Auch gestritten, ja, das musste er zugeben. Aber irgendwie hatte es dazugehört.
»Ach«, stöhnte Theodor und erkannte, dass er irgendwann mal irgendetwas falsch gemacht haben musste. Aber er kam einfach nicht darauf, was.
Ungehalten schloss er das Fenster, schaltete den Fernseher an und zappte sich im Stehen zur wöchentlichen Büchershow durch, die schon angefangen hatte. Da war sie ja, seine Frau Schilling. Sie trug eine seidene Bluse mit pastellfarbenen Schmetterlingen darauf. Sehr geschmackvoll. Theodor lächelte, doch dann durchrieselte ihn plötzlich ein Schreck. Er hatte sie zum Abendessen eingeladen! War er verrückt geworden? Das war ein ganz großes Tabu, das er damit brach. Man lädt seine Klienten nicht zu sich nach Hause ein. Totales No-Go , hätte David gesagt. Und Recht gehabt.
Aber was soll’s? Theodor ließ sich aufs Sofa fallen. Ich bin ja sowieso bald ein gelangweilter Rentner. Da kann ich mir einladen, wen ich will, und bin froh, wenn überhaupt einer kommt, und Natalie Schilling mag ich einfach gern. Die würde auch David gut gefallen. Er hat doch eine Schwäche für attraktive Frauen über vierzig und fachsimpelt gern mit ihnen über Botoxbehandlungen und Augenlidkorrekturen.
Theodor konzentrierte sich auf die Büchershow, in der Natalie gerade ein Buch als großen Lesespaß pries. »Wie tapfer die kleine Kreuzritterbraut allen Widrigkeiten des mittelalterlichen Lebens trotzt und wie sie sogar noch auf dem Scheiterhaufen zu ihrer großen Liebe steht«, sagte Natalie und schaute mit staunenden Augen in die Kamera. Dann war die Rede von Flammen, die an kleinen Füßen züngeln, und vom heranpreschenden Retter. Lächelnd hob Natalie das dicke Buch in die Höhe und schloss mit den Worten: »Wirklich brillant geschrieben. Eine Autorin, die sich ihrer Mittel sehr bewusst ist.«
Theodor runzelte die Stirn. Sie log ja, dass sich die Balken bogen. Sie hatte wohl wirklich keine Lust mehr auf die Büchershow. Und darum hatte sie heute fünf Bücher in den Lietzensee geworfen. Nicht schlecht. Er lächelte. Wenigstens eine, die sich helfen lässt. Ballast muss man abwerfen, richtig so. Und es geht nichts über eine symbolträchtige Handlung.
Was könnte er denn tun, um sich zu erleichtern? Theodor dachte nach. Das Grammophon aus dem Fenster werfen. Nein, ernsthaft. Schwitzend schaltete er den Fernseher aus und gab sich seinen Gedanken hin: Er wollte nicht wegziehen. Er wollte nicht in Rente gehen. Er wollte nicht allein sein. Er wollte nicht alt werden. Aber was wollte er denn, um Gottes willen? Was wollte er?
Er wollte, dass alles wieder so war wie vorher.
»Na, wunderbar«, murmelte Theodor und legte die Füße auf den Couchtisch. »Keinen Funken Selbsterkenntnis im Leib.«
Es schien leichter zu sein, im Leben Veränderungen zu bewirken, als … Stabilität. Oder war das die falsche Bezeichnung? War es nicht eher Stagnation? Stillstand? War es das, was er so zielstrebig angesteuert hatte? Den toten Punkt? Alle anderen entwickelten sich fröhlich weiter, nur er, Theodor Silberstadt (wohnhaft in einem Elfenbeinturm am See), wollte, dass die Zeit stehen blieb. Er, der seinen Klienten immer predigte, dass dunkle, verzweifelte Lebensphasen von großer Bedeutung seien, um deren Überwindung als stufenweisen Wachstumsprozess zu erfahren, dass Risiken, Experimente und Wagnisse wichtiger seien als psychisches Wohlbefinden, ausgerechnet er ertappte sich bei solch einer geistigen Trägheit.
»Unfassbar«,
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