Ein Hummer macht noch keinen Sommer
Miene.
»Also«, sagte Rudolf, »ich wollte dir Folgendes erzählen: Auch ich habe mal gemalt. Jahrelang habe ich mich auf Porträts versteift. Doch lächelnde Münder trieben mich an den Rand des Wahnsinns. Und Ohren erst recht. Aber am allerschlimmsten waren Hände. Meinen Modellen habe ich immer Fächer oder Katzen gereicht, damit sie ihre Hände dahinter verstecken konnten. Aber das war demütigend für mich, und am Ende lag diesen Gemälden stets so ein unheimlicher Eindruck der Verstümmelung zugrunde.«
»Oh«, machte David und schenkte Champagner nach.
»Also beschloss ich, keine Hände mehr zu malen, sondern stattdessen etwas, was keine Hände besitzt. Kieselsteine zum Beispiel. Oder Wale.« Betrübt schüttelte Rudolf den Kopf. »Aber auch das war unbefriedigend. Um es kurz zu machen: Ich habe die Fronten gewechselt. Verstehst du?«
»Muss wieder Pipi.«
»Gleich!«, riefen beide Männer wie aus einem Mund.
»Jetzt!«
»Wie meinst du das?«, fragte David und sah Rudolf an.
»Ich möchte eine Ausstellung mit deinen Hummergemälden machen.«
David wollte etwas erwidern, doch sein Mund blieb offen stehen, und es kam kein Ton heraus.
»Ich gehe jetzt nach Hause Pipi machen«, sagte Rosie und glitt vom Stuhl. Rudolf hielt seine Tochter fest. »David«, murmelte er mit etwas schwerer Zunge. »Was sagst du dazu?«
»Das ist der schönste Satz, den ich in meinem Leben gehört habe«, flüsterte David ergriffen. Rosie sah erstaunt zu ihm auf.
»Wir telefonieren«, sagte Rudolf und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Und noch etwas: Ich möchte gern ein Hummerbild kaufen. Den Tiefkühlhummer auf dem Anker.«
David erhob sich. Er schwankte ein wenig. »Rudolf«, antwortete er feierlich. »Ich schenk ihn dir.«
»Das kommt gar nicht in Frage. Aua, Rosie, du reißt mir gleich den Finger ab!«
»Nach Hause, nach Hause, nach Hause.«
»Ich bestehe darauf.«
»Aber nein.«
»Pipi machen.«
»Rudolf«, sagte David und blinzelte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie Vincent van Gogh?«
Es war der Beginn einer langen Freundschaft.
▶◀
»Guten Abend. Wie geht’s dem Zwerg?«
»Er hält sich zurück.«
»Umso besser. Kommen Sie herein. Schön, dass Sie da sind.«
Natalie trat in Theodor Silberstadts beeindruckende Altbauwohnung und überreichte ihm einen Strauß Sonnenblumen. »Vielen Dank für die Einladung.«
»Bitte hier entlang.«
Natalie ließ sich in ein großes Wohnzimmer führen, das man besser als Salon bezeichnet hätte. Mit dem Parkettboden und der hohen Stuckdecke machte es einen höchst eleganten und erlesenen Eindruck auf Natalie. »Sie wohnen wunderschön«, sagte sie und ging zum Fenster. »Mit Blick auf den Lietzensee, besser geht es in ganz Berlin nicht.«
»Nicht wahr?«, rief Theodor und kam mit einer gläsernen Vase herein, in der die Sonnenblumen standen. »Ich möchte niemals von hier weg.«
»Warum sollten Sie auch?«
»Ach.« Theodor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Trinken Sie ein Glas Sherry?«
»Gern.«
Während Theodor einschenkte, sah sich Natalie unauffällig um. Dieser Mann ist wirklich stilsicher, dachte sie. Die wenigen, wie zufällig hingestreuten Möbel ordnete Natalie dem Art déco zu. Es wirkte modern und trotzdem auf charmante Weise ein wenig vergangen. Auf einer Kommode stand ein Grammophon mit schimmerndem Trichter.
Theodor reichte ihr das Sherryglas. »Auf Ihr Wohl, Frau Schilling.«
»Auf das Ihre, Herr Silberstadt.«
»Wie förmlich.« Er lachte und trank einen Schluck. Dann setzten sie sich aufs Sofa.
»Ich habe Sie gestern in der Büchershow gesehen.«
Natalie lächelte schwach.
»Sie wirkten … angespannt.« Mir fiel auf, dass Sie mit wenig Überzeugung ein Buch anpriesen, in dem es um die Braut eines Kreuzritters ging.«
»Oh«, machte Natalie betroffen. »Sie haben mir angesehen, dass ich das Buch doof fand?«
»Vielleicht liegt es daran, dass ich Sie inzwischen ein bisschen besser kenne?« Theodor lächelte sie an. »Aber Ihre Bluse war zauberhaft.«
»Wie habe ich mich verraten?«
»Ihre Körpersprache war kraftlos, die Stimme schleppend, die Augen stumpf.«
»Ach du liebe Güte!« Natalie zog den Kopf ein.
»Sehen Sie nur: Sie nehmen eine Schutzhaltung ein, weil Sie sich durchschaut fühlen. Und was sagten Sie neulich am Notfalltelefon zu mir? Sie haben die fünf Bücher für die LiveSendung in den Lietzensee geworfen?«
Natalie nickte betreten.
»Das ist eine sehr bildhafte Aktion.«
»Ich
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