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Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Titel: Ein Hummer macht noch keinen Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Wekwerth
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gegriffen, um die zusammengerührten braunen Häufchen von der Palette zu wischen. Die Wut über die eigene Unzulänglichkeit hatte sich mit der Wut darüber vermischt, hektisch mit Wisch-&-Weg-Tüchern herumhantieren zu müssen, weil in spätestens zwei Stunden das Atelier nicht mehr das seine sein würde. Betrunkene Jungs würden wieder überall herumhängen, wie Wesen aus der Unterwelt Rauchschwaden ausstoßen und neben das Klo pinkeln. David musste sich also beeilen, Transparenz und Vergänglichkeit auf die Leinwand zu zaubern, aber wer kann schon malen, wenn er in Eile ist?
    »Niemand!«, brüllte David und weckte damit Tim, der sich auf anmutige Weise räkelte, »Hey, Dave« murmelte und auf nackten Füßen zum CD -Player wankte.
    »No!«, rief David, den Pinsel wie einen Stachel gegen Tim gerichtet. »Don’t! I have to finish this first, and I would appreciate …« Der Rest seines Satzes ging in Technoklängen unter, zu denen Tim ausgelassen zu tanzen begann.
    David starrte den Mond an und fühlte sich auf einmal so unerträglich klein und nichtig. Er würde gewiss keine Spuren hinterlassen, weder auf dem Mond noch auf der Erde. Denn er war jemand, der oberflächlich und flüchtig und für Schmeicheleien anfällig war, ein eitler Möchtegernkünstler, der dem Menschen, den er am meisten schätzte und liebte, aus einer Laune heraus das Herz gebrochen hatte. Er war jemand, der an Türen lauschte, der … In diesem Moment gab der Laptop einen klingenden Ton von sich. David eilte zu seinem Schreibtisch. Er hatte eine E-Mail von [email protected] erhalten. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Reuters? Die internationale Nachrichtenagentur? So spät am Abend? Wollte man eine Eilmeldung über die neu entdeckten Shootingstars der Berliner Boheme bringen? Er öffnete die Mail und begann zu lesen:
    Hallo, ich habe mir heute in Neuruppin die Gemälde von Regina Riebsahl angesehen und dabei in einem Nebenzimmer Ihre Hummerbilder entdeckt, die mich über alle Maßen beeindruckt haben. Hätten Sie Lust, sich mal mit mir zu treffen? Ich würde mich gern mit Ihnen austauschen.
    Mit freundlichen Grüßen, Rudolf Euter
    Mit offenem Mund starrte David auf den Bildschirm. Nicht Reuters? Sondern Rudolf Euter? Was war denn das für ein Name? Grenzenlos enttäuscht und ein wenig hysterisch lachte David auf. Aber die Hummer hatten ihm gefallen, diesem Rudolf Euter. Und er wollte sich mit ihm treffen. Vielleicht würde er ein Bild kaufen? Vielleicht hatte er Kontakte?
    Der Mond war vergessen, und David klickte auf Antworten .
    Derweil stand Hertha am Schlafzimmerfenster, schaute in den nächtlichen Himmel und dachte an ihren Verlobten, der seit bald sechzig Jahren tot war. Wie wohl ein Leben mit ihm verlaufen wäre? Bestimmt sehr schön. Sie hatten sich so gerngehabt. Hertha gab dem Schmerz nach, der im Laufe der Zeit nie weniger geworden war. Sie hatte lediglich gelernt, damit zu leben. »Mein Serge«, seufzte sie und wischte sich über die Augen. Dann versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Ihr fielen die Streithähne Theodor und David ein. Hertha machte schmale Lippen. Die beiden warfen sich ja genau die Charaktereigenschaften vor, die sie im Laufe der Jahre gegenseitig geschürt hatten. Das müsste Theodor als Psychologe doch eigentlich erkennen. Aber ihr Sohn war wohl betriebsblind geworden. Na ja, dachte Hertha und zupfte an der Spitzengardine herum, wenn es so einfach wäre. Das Leben ist nicht immer einfach. Eigentlich nie.
    Sie ging zu Bett. Mondschein fiel auf die Decke. Hertha schloss die Augen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Es war auch viel zu heiß. Ächzend stand sie auf, ließ die Jalousien herunter, dann legte sie sich wieder hin und starrte ins Dunkel.
    Kleine Kinder, kleine Sorgen, dachte sie. Große Kinder, große Sorgen.
    Zur selben Zeit stand Theodor am geöffneten Fenster und blickte auf den Lietzensee, in dem der Mond ein nächtliches Bad zu nehmen schien. Eine milde Brise wehte herein. Es duftete schwach nach Blüten. Rosen vielleicht? Liebliche Szenerie, dachte Theodor gereizt, passt überhaupt nicht zu der Scheißlaune, die ich habe. Meine Mutter quatscht mir in alles rein, ich quatsche den Leuten in alles rein. Und was bringt es? Nix. Alles Mist. Alles Murks. Das ist also die bittere Bilanz am Ende meines Lebens. Jawohl, am Ende meines Lebens. Denn wenn das Leben eine Brücke wäre, ganz egal, was für eine Brücke, dann würde ich mich ans Ende dieser elenden Brücke stellen. Ich wäre fast schon

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