Ein Hummer macht noch keinen Sommer
Entgegen ihrer Gewohnheit, zuerst ein resolutes »Hallo?« in die Sprechanlage zu rufen, drückte sie sofort den Öffner, riss die Wohnungstür auf und vernahm ein scharrendes Geräusch, das immer näher kam. Hertha stutzte. Was war das? Es klang wie … das Kratzen von Krallen auf Linoleum. Jetzt wurde noch ein asthmatisches Keuchen hörbar, und dann kam ein kleines, fettes Tier mit schwarzem Gesicht die Treppe hochgewetzt. Bevor sich Hertha wundern konnte, folgte ein rothaariges Mädchen, das »Feivel, hierher«, kreischte, und dann kam David hinterher, ein rosa Lacktäschchen am Arm, in Begleitung eines bärtigen Mannes.
»Darf ich vorstellen?«, rief David, der bester Laune zu sein schien. »Das sind mein Galerist und lieber Freund Rudolf Euter, seine Tochter Rosie und der Mops Feivel.«
Rudolf Euter reichte Hertha die Hand und verbeugte sich galant, was ihr gut gefiel. Kind und Hund waren gerade im Schlafzimmer verschwunden, was ihr weniger gut gefiel.
»Du magst doch kleine Mädchen«, sagte David, »und da wollte ich dich fragen, ob du mal kurz auf Rosie aufpassen könntest. Rudolf und ich, wir fahren gleich nach Neuruppin, um meine Bilder abzuholen, denn die Hummer-Hommage-Vernissage soll schon bald stattfinden und …«
»Luft holen, David«, erinnerte ihn Hertha.
»Wir wären Ihnen sehr verbunden, gnädige Frau«, sagte Rudolf, während David folgsam einatmete.
Hertha bemerkte, dass die Sonne durch Herrn Euters roten Bart schien. Es sah aus, als stünde sein Gesicht in Flammen. Hertha unterdrückte ein Kichern (War Euter überhaupt ein Name?) und machte eine wedelnde Handbewegung. »Natürlich, natürlich.«
David strahlte und breitete die Arme aus.
»Nicht wieder hochheben!«, rief Hertha warnend.
»Schon gut.«
»Herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Frau Silberstadt«, sagte der Mann mit dem unmöglichen Namen und dem brennenden Bart und küsste ihren Handrücken. »Tschüss, Rosie«, rief er, dann waren sie schon wieder auf dem Weg nach unten.
»David!«, rief Hertha durchs Treppenhaus und dachte sich, dass Frau Wiesel aus dem Erdgeschoss bestimmt schon hinter der Gardine bereitstand.
»Ja, Herthalein?« Er sah zu ihr hoch.
»Was ist mit dem dicken Hund?«
»Darf der auch kurz bleiben?«
»Ist er stubenrein?«
»Klar.«
»Also gut.«
»Danke, Herthalein.«
»Vielen Dank, Frau Silberstadt.«
»Und … David!«
»Ja?«
»Du siehst albern aus mit der rosa Umhängetasche.«
David galoppierte den Treppenabsatz wieder nach oben und überreichte Hertha die glitzernde Lillifee-Tasche. »Die gehört Rosie.«
»Ach so. Ich dachte schon …« Hertha grinste.
»Tschüss, jetzt.«
»Tschüss. Gute Fahrt.«
Hertha schloss die Wohnungstür und ging ins Schlafzimmer. Dort lag Rosie auf dem Bett, auf ihrem Bauch hatte es sich der Mops bequem gemacht.
»Hallo, kleines Mädchen«, sagte Hertha.
»Hallo, alte Frau.«
»Ist dir der Hund nicht zu warm?«
»Das ist kein Hund, das ist ein Mops.«
»Wenn du meinst.«
Rosie nickte. Der Mops hatte seinen hässlichen Kopf unter ihr Kinn geschoben und schnarchte.
»Hast du Hunger?«, fragte Hertha.
»Nö.«
»Willst du Gummibärchen?«
»Ja.«
»Dann komm.«
Kind und Mops folgten Hertha in die Küche. Dort aßen sie alle drei eine Tüte Tropifrutti leer. »Ich mag die roten am liebsten«, sagte Hertha kauend. »Ich die gelben«, erwiderte Rosie.
Der Mops Feivel schien keine Vorlieben zu haben.
Dann kehrte Rosie mit ihm auf Herthas Bett zurück, schüttete den Inhalt ihrer rosa Tasche aus und begann mit winzigen Plastikfigürchen zu spielen.
Hertha ging ins Wohnzimmer und rief Theodor in der Praxis an. Das hatte er gar nicht gern, aber sie machte sich allmählich wirklich Sorgen. Niemand nahm ab, nur der Anrufbeantworter sprang an. Hertha legte auf und wählte mit zitternder Hand die Nummer seiner Wohnung. Auch hier ging bloß ein Anrufbeantworter an. Dann versuchte Hertha, Theodor auf dem immer eingeschalteten Notfall-Handy zu erreichen. »Hier ist der Anschluss von Theodor Silberstadt, hinterlassen Sie bitte nur in dringenden Fällen eine Nachricht. Ich rufe Sie, so schnell es geht, zurück.« Piiiiep.
Hertha flüsterte: »Wo bist du?« Ihr war übel, nicht nur von den Tropifruttis. Urplötzlich überschwemmte sie ein fürchterliches Gefühl. Wie damals, als sie so lange nichts mehr von Serge gehört hatte. Und dann war die Nachricht von seinem Absturz gekommen. Wenn nun auch noch ihr Sohn … ihr Ein und Alles. Hertha keuchte, sie bekam keine
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