Ein Hund mit Charakter
Tropfen Wachs von der Schulter seines abgewetzten Smokings, als die kleinen, längst Gewohnheit gewordenen Liturgien der Erinnerung, diese ungeschriebenen Traditionen von Familien oder kleinen Gruppen, Traditionen des Speisens und Trinkens, der Umgangsformen, der Garderobe und Verdrängung von Gefühlen –, natürlich nur, wo es sich um eine richtige Familie handelt, setzt er in Gedanken noch schnell hinzu. Die Kerzen brennen und verbreiten den betörend süßen Duft, die fast betäubende Festlichkeit, die der Herr unwillkürlich mit der frösteln machenden Erinnerung an Unausgeschlafenheit, an Frühmessen und Ministrantendienst assoziiert. Nun, Dominus vobiscum! – fällt ihm ein, und er prüft noch schnell, ob er auch nichts vergessen hat.
Das beklemmende Gefühl, sich sputen zu müssen – und nicht nur in diesem Moment, sondern überhaupt, weil doch von einem Augenblick zum nächsten das alles hier ein Ende haben kann, diese bürgerlichen Formen und Sitten –, das Gefühl treibt ihn auch jetzt an: Man muß sich beeilen mit dieser Weihnachtsfeier, denn gleich könnte das Telephon klingeln, oder jemand steht im Entree oder meldet von außen, daß die Feier zu Ende ist, zumindest für die nächste Zeit. Er hat die Hand schon tastend an der empfindlichen Membrane des Grammophons, will gerade die Nadel auf den Rand der schwarzen Scheibe setzen, als sein Blick dem einer ganz vergessenen Kreatur begegnet.
Der Clou des Festes! Der Höhepunkt! Tschutora stützt sich auf den Rand des Papierkorbs, seine winzigen Pfötchen klammern sich fast mit menschlicher Gebärde fest. Stumm, um nicht zu sagen wortlos, verfolgt er die Vorbereitungen.
»Ja, Freundchen, so sieht sie aus, die Welt«, sagt der Herr gedämpft und vertraulich und beschreibt mit der Hand einen Kreis. »Da staunst du! In der trüben, grauenhaften Werkstatt, in der du gemacht wurdest, hast du dir das nicht träumen lassen! Dies ist das Herrenzimmer einer bürgerlichen Behausung. Das ist der Weihnachtsbaum. Hier sind Wachskerzen und dort die Geschenke, angeblich Zeichen des größten und delikatesten Mysteriums, das es im Leben gibt: Symbole der Liebe. Du selbst bist jetzt so ein Symbol. Komisch, nicht? Also komm her.«
Das Symbol begleitet diese Ansprache mit leisem Gewinsel, dreht das Köpfchen von einer Seite zur anderen und bäumt sich auf. Dann sitzt es zitternd und sichtlich nervös mit gesträubtem Fell auf der Hand seines Herrn, duldet, daß ihm ein Tannenzweiglein ins Halsband gesteckt, daß es in Seidenpapier gepackt und mit einem Tuch abgedeckt zu den Geschenken für die Dame unter dem Weihnachtsbaum gesetzt wird. Reglos und ohne aufzubegehren findet das Päckchen zwischen den anderen in Seidenpapier gewickelten Symbolen der Liebe seinen Platz. Was mag in ihm vorgehen? fragt sich der Herr ein wenig unbehaglich, als er das Grammophon in Gang setzt und nachzuempfinden versucht, welche Wirkung wohl die ersten Töne des Palestrina-Chores auf die fein verpackte Kreatur haben. Er öffnet die Tür ganz weit, tritt in die dunklere Ecke des Zimmers zurück und zündet sich eine Zigarette an. Jetzt beginnen diese heiklen zehn Minuten, in denen jeder der Anwesenden geräuschvoll und ohne Scheu die zärtliche Zuneigung seiner Mitmenschen zur Kenntnis nimmt. Die Teilnehmer an der festlichen Stunde treten näher, langsam, zögernden Schrittes und verhalten plaudernd, streben irgendwie en passant auf das kümmerlich gewachsene Bäumchen zu, das in zartem Licht erstrahlt. Auf halbem Weg bleiben sie stehen, abrupt verstummt das Gemurmel.
Als hätte sie eine plötzliche Erscheinung berührt: Erinnerung und Sehnsucht machen diese Erscheinung aus. Sie schauen in die Kerzenflämmchen und verharren im Halbdunkel, eine entwaffnend harmlose kleine Truppe, die nur durch das Blut und andere, kompliziertere, kaum kontrollierbare Bande zusammengehalten wird. »Friede!« dröhnt der Palestrina-Chor aufwühlend, und es ist wirklich schwer zu begreifen, was in diesem Moment die Hausbesorgerin, die erst seit zwei Wochen ihren Dienst tut, und ein junger Handwerker, angeblich Monteur in der Rohamgasse, der die Absicht haben soll, im kommenden Frühjahr Theres’ Schwester zu ehelichen, hier verloren haben. Wie der vierte Stand in Person stehen sie mit triumphierendem Grinsen, angeführt von Theres, im Türrahmen und verweisen durch ihr bloßes Dasein darauf, daß irgendwann einmal die Zeit kommt, da eine Herde und ein Hirte sein wird. Es mag ja angehen, daß sich der
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