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Ein Hund mit Charakter

Ein Hund mit Charakter

Titel: Ein Hund mit Charakter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Rundfunk und Zeitungen können nichts Gescheiteres tun, als Knaller mit allerlei Parolen steigen zu lassen, gefällig zwar, aber mit kaum nachhaltigerer Wirkung als eine verpuffende Rakete.
    Unheilverkündend, zum Erbarmen kalt ist die Stimmung dieser Vorfrühlingswelt. »Disziplin« und Tagesordnung des Herrn sind vollkommen aus den Fugen. Stunden-, ja wochenlang tut er nichts anderes als warten. Das an Schwindel erinnernde Gefühl, das ihn früher manchmal bei der Betrachtung seines Lebensrahmens überkam, so daß er vermeinte, in toten und nur noch vom Gesetz der Trägheit zusammengehaltenen Formen zu existieren, schwindet jetzt überhaupt nicht mehr. Irgend etwas ist vorüber. Er schreitet durch die Zimmer, greift nach einem Buch im Regal, schlägt es auf, liest ein paar Zeilen. Auch das ist gewesen, stellt er fest, was für starke und reine Formen, die eine weniger epigonenhafte Epoche mit frischer Lebenskraft zu füllen vermochte. Leider vorbei – er stellt das Buch an seinen Platz zurück und starrt auf den Buchrücken wie auf die Inschrift eines Epitaphs. Er betrachtet Gegenstände: So hat der Bedarf einen Stil ausgebildet; wie gelassen diese Form doch war, aus dem Boden gewachsen, aus ihrer Zeit hervorgegangen, voller Anmut und Kraft, sie hatte noch Sinn und eine organische Epidermis. Leider – und er löst seinen Blick von dem Gegenstand – ist auch das vorbei. Besucher kommen und plaudern; genauer gesagt, wenngleich in schlechterem Stil: sie »machen Konversation« im Sinne dieses präzisen Ausdrucks, der mit spröder Sachlichkeit brutal artikuliert, daß die Zeitgenossen – verglichen mit einstiger wirklicher Unterhaltung – einander nur noch Ersatz zu bieten vermögen. Sie »machen« Konversation wie eine manuelle Tätigkeit, gewandt, aber mit gleichgültiger Handfertigkeit, mechanisch oder so, als spielten sie Karten. Und tatsächlich, nicht selten greifen sie zu den Karten anstelle von Worten und überlassen es der Cœur-Dame und dem Pique-Buben, an ihrer Statt das herzuplappern, wozu ihnen Phantasie und Begriffe fehlen. Vorbei ist vorbei, sinnt der Herr und ruft Tschutora zum Spaziergang.
    Ohne daß es jemand merkt, verlassen sie am Nachmittag die Wohnung, als die Teilnehmer der einen von zwei Lebensarten, nämlich die passiven Akteure dieser epigonenhaften Zeit, im rückwärtigen Zimmer einander gerade zurufen: »Zwei Treff.« Sie sagen das in ihrer Not, weil sie ja sonst schon alles gesagt und erlebt haben, auch die Schlagworte und Wunschvorstellungen. »Drei Cœur«, vernehmen sie gerade noch in der Diele, doch Tschutora trippelt schon nervös auf dem Bänkchen herum, zuckt mit dem Kopf vor der Kette zurück. In seiner Aufregung läßt er sich zu despektierlichen Freudenausbrüchen hinreißen, springt dem Herrn ins Gesicht, beleckt seine Hände und Schultern, duldet zitternd, daß die Kette am Halsband festgemacht wird, und schon zerrt er den Herrn ruppig und mit erstaunlichem Kraftaufwand zum Stiegenhaus hin; denn mächtigere Neigungen sind jetzt in Gang gekommen, sie verdrängen Freundschaft und Respekt gegenüber dem Herrn. Ein Nachmittagsspaziergang mit ihm ist natürlich etwas ganz anderes als das uninteressante Auf und Ab in der Sackgasse, wo dieser Erbfeind auf ihn lauert und ihn mit Unflat überhäuft. Tschutora, jetzt ganz der Hund seines Herrn, ist für diese Nachmittagsstunde sogar bereit, die Dame zu vergessen oder gar zu verraten, denn er weiß, was jetzt kommt, ist eine ernste, mannhafte Angelegenheit, die allerlei Überraschungen verspricht, also eine Unternehmung nach Männerart, Ziel des Nachmittagsspaziergangs die Generalswiese.
    Der Weg dorthin ist nicht weit, die große Wiese, dem Aussehen nach ein ziemlich kahles Oval, dessen Überraschungen in Form einer üppigen, aber verborgenen Flora und Fauna wohl nur Tschutora richtig kennt und auch zu schätzen weiß, fängt gleich an der nächsten Straßenecke an. Sie verlassen das Haus, und während der Herr sich die Handschuhe zuknöpft, überfliegt Tschutora schnell und flüchtig die Tagespost an den alten Kastanien vor dem Haus. Neben dem neuesten Posteingang müssen sich hier an jedem einzelnen Stamm uralte Aufzeichnungen, Nachrichten und Informationen angesammelt haben, denn Tschutora versenkt sich bald hier, bald da, kontrolliert und vergleicht, nachdem er selbst seinen Lieblingsbaum von allen Seiten berochen und dann, noch unbeholfen wie kleine Mädchen, also ohne das Hinterbein anzuheben, den Meldungen ein paar kurze

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