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Ein Hund mit Charakter

Ein Hund mit Charakter

Titel: Ein Hund mit Charakter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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kennt noch eine gewisse Koketterie. Es ist eine Art Chorgemeinschaft der Greise, an der Herr und Hund hier vorbeiziehen müssen, und der Chor liebt es, dem ahnungslosen Vierbeiner Schmeicheleien zuzulispeln. Doch nur die Jugend bringt es fertig, die armseligen Sirenenklänge des Alters so gnadenlos zu überhören, ihnen so wenig Beachtung zu schenken wie dieser Fratz Tschutora. Er würdigt die Alten keines Blickes, die ihrerseits mit den knochigen Greisenhänden noch gern für einen Augenblick eine Handvoll wuschelige und kernige Jugend erhaschen, die festen Muskeln fühlen, die feuchte Hundeschnauze liebkosen wollen und sich in unbewußter Lust an jugendlicher Hitze ein wenig wärmen möchten, selbst wenn sie nur von einem Hund mit dubiosem Stammbaum gespendet wird. Doch Tschutora ignoriert diese Sirenentöne, er wendet den Kopf ab, mag den Geruch der Greise nicht; distanziert und teilnahmslos, mit eingezogenem Schwanz als Zeichen seiner Unlust, trottet er an ihnen vorüber. Er schätzt Dienstboten, Alte, Briefträger und Schusterbuben nicht, hat nichts übrig für die große Völkerschar der Betagten, Siechen und jeder Art von Untergebenen. Emporkömmling! Parvenü! … denkt der Herr, und er hat Grund dazu.
    Gesäumt wird das Oval der Wiese von niedrigen, ebenerdigen Häusern, die fast Hütten sind und gar nichts Städtisches haben; es ist, als wären sie vergessen worden und noch aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende hier stehengeblieben. Nur sehr gelegentlich fällt in dieser geschäftsflauen Zeit der Abbruchhammer über das eine oder andere her. Nein, »romantisch« ist die Umgebung nicht, kein einziges dieser Häuschen weist in Hof, Flur, an den Fenstern oder an irgendwelchem Zierat auch nur eine Spur des Geschmäcklerischen und der Prachtentfaltung auf, wie sie die jüngere Vergangenheit so geschätzt hat; vielmehr haust hier modernes Elend. Die Simse der Fenster befinden sich kaum in Kniehöhe der Passanten, durch offene gewölbte Tordurchgänge fällt der Blick auf Höfe mit verfallenden Schuppen, mit Oleanderfäßchen, rauchenden Backöfen, Zwetschgendarren und Wäscheleinen. Aus diesem geduckten Elend erheben sich ein paar neue mehrstöckige Mietshäuser, die wie mittelalterliche Trutzburgen die Hütten der Leibeigenen überragen. Dieser Bereich wirkt verschlafen wie eine kleinbürgerliche Zigeunerzeile, die offenbar keine Sanierung oder Neuordnung verdient. Die Herren über die Geschicke der Stadt haben es dem Leben und der Zeit überlassen, das Schicksal der langgezogenen Gasse nach Belieben zu regeln. Glücklicherweise ist es noch niemandem in den Sinn gekommen, die weitläufige Wiese davor mit Bäumen zu bepflanzen, geschniegelte Parkanlagen daraus zu machen oder Häuser darauf zu bauen. Über diesem Viertel, in dem sich ein wichtiger Abschnitt von Tschutoras Jugend, ebenso vom Mannesalter des Herrn, abspielt, liegt der dumpfe Hauch des Vergessens und des Sichselbstüberlassenseins.
    Hier am Rande des Gehsteigs kauert in einem primitiven Wägelchen auch die Bauersfrau mittleren Alters mit dem sanften Ausdruck auf ihrem wachsgelben Gesicht, immer in ein sauberes, gebügeltes Kopf- und Schultertuch gehüllt, die der Herr täglich nach ihrem Befinden fragt. Sie antwortet sehr leise und verschämt, mit der Scheu von Schwerkranken hebt sie den lächelnden Blick ihrer hellblauen Augen, die steifen, durch die Krankheit zart und durchsichtig gewordenen Hände ruhen auf einem gehäkelten schwarzen Tuch in ihrem Schoß – mit Worten, so leise, daß sie kaum zu verstehen sind, fast nur mit ihrem Lächeln, antwortet sie; und sie scheint damit um Nachsicht zu bitten, so zart, daß es den Herrn jeden Tag in Staunen versetzt, wie Krankheit das Lächeln einer gelähmten Wäscherin veredeln kann. Nie ist aus ihrem Mund ein Klagelaut zu hören. In dem Gefährt, das ihr ein Tischler aus der Nachbarschaft zusammengebastelt hat, mit ihren sauberen, gebügelten Tüchern wirkt sie stets adrett. Bei gutem Wetter sitzt sie den ganzen langen Tag am Straßenrand und hält das Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zugekehrt. Sie hat noch nie ihren »Roman« erzählt, von ihrer Krankheit geredet – über sich spricht die Frau nicht, fragt auch nicht, was in der Welt geschieht, nur übers Wetter äußert sie sich gelegentlich, und für alles hat sie nur noch ihr Lächeln. Gern bliebe der Herr etwas länger bei dem Rollstuhl stehen, denn jedesmal fasziniert ihn dieses friedliche Lächeln, wie er es nur selten auf dem

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