Ein Hund mit Charakter
Randbemerkungen hinzugefügt hat. Dieses Studieren und Vertiefen betreibt er so penibel und mit so viel Ernst, wie es wahren Forschern zur Ehre gereichen würde. Selbst die winzigste Spur ist ihm eine genaue Überprüfung wert, und in den meisten Fällen kritzelt er auch gleich eine kurze, passende Bemerkung hinzu. So geht es also nur langsam vorwärts, denn offensichtlich hat sich von einem Tag zum andern sehr viel angesammelt, Reminiszenzen und dringende Fragen, deren Beantwortung keinen Aufschub duldet.
Eine Weile läßt der Herr den Hund gewähren, bevor er sich genötigt sieht, ihn energisch zu unterbrechen, weil diese Lektüre sonst kein Ende nähme. Was die Hunde des Viertels sich wohl alles mitzuteilen haben? Vermutlich schlichte Tatsachen. Vielleicht: Ich lebe. Oder: Ich sehne mich nach Bekanntschaft. Oder: Ich habe geliebt und bin glücklich. Oder: Ich bin jung, ich bin alt, ich bin eine Frau, bin ein Mann. Auf der Strecke vom Hauseingang bis zum Wiesenrand ist die Straße eine einzige fast nach Millimetern eingeteilte, randvolle Spalte mit Kleinanzeigen. Sie haben es leicht, seufzt der Herr versonnen. Dann zerrt er den sich heftig wehrenden Hund hinter sich her den Abhang hinab.
Wie sie so über die abschüssige Straße dahinschlendern, zwischen den beiden Reihen von Kastanien, die bereits in der Pracht ihrer Kerzen leuchten, sind sie offenbar kein besonders erhebender Anblick. Verstimmt spürt der Herr, wie ihnen die Leute hinterherschauen, hauptsächlich pensionierte ältere Herren in Lodenmänteln, die ihre Nachmittagsspaziergänge bevorzugt auf der Bastei und am Rand der Generalswiese absolvieren. Diese Herren im Lodenhabit haben sich vielleicht irgendwann einmal mit Hunden befaßt oder männlichen Leidenschaften wie der Jagd gefrönt, sich jedenfalls gewisse Hundekenntnisse angeeignet: Kurz und gut, der Herr mußte bei diesen Spaziergängen schon öfter erstaunte und befremdete Blicke registrieren, abschätzige Bemerkungen und verwunderte Ausrufe hören. Gelegentlich hat sich der eine oder andere auch nach ihnen umgedreht und verdutzt den Aufzug betrachtet. Diese älteren Herren im Ruhestand, die zu jeder Tageszeit in den Gassen und auf den Plätzen des Christinenviertels umherschlendern, die vor Kaffee- und Wirtshäusern, in den Konditoreien dieses provinziellen Stadtviertels herumsitzen, sich von der Sonne wärmen lassen und, weil sie sonst nichts zu tun haben, jede Gelegenheit nutzen, ihre Mitbürger streng zu beäugen, sie gaffen staunend hinter Tschutora her. Dieses Staunen ist beklemmend. »Die Rasse habe ich noch nie gesehen«, hat der Herr eines Tages einen pensionierten General sagen hören, der mit seinem Freund, dem Notar in Ruhe, jeden Nachmittag zwischen Horváthgarten und der Kirche am Christinenplatz auf und ab stolziert. »Ich auch nicht, Exzellenz«, versicherte diensteifrig der Notar; und beide starrten lange, mit der Muße alter Herren und sichtlich verwundert dem Hund wie auch seinem Herrn nach. Der Herr spürt, daß diese Aufmerksamkeit mehr mit Überraschung und Zweifel als mit anerkennender Bewunderung zu tun hat. Dunkel ahnt er, daß sie beide vom züchterischen Standpunkt wie auch aus ästhetischer Sicht einen nicht gerade gefälligen Anblick bieten, wie sie da am Rand der Generalswiese entlangmarschieren: Tschutora mit Beißkorb, den er sich bei jedem Schritt mit der Vorderpfote von der Schnauze zu zerren versucht, mit dem ununterbrochenen Sträuben und darüber hinaus mit seinem für Hundeästheten nicht gerade alltäglichen Habitus, dem etwas gestauchten, irgendwie zu kurz geratenen Rumpf. Ihm schwant, daß an Tschutoras Körperbau etwas Ungewöhnliches sein muß. Die Bemerkungen, die er dann und wann aufschnappt, haben in ihm schon seit geraumer Zeit die Überzeugung gefestigt, daß Tschutora bei den kompetenten Lodenherren Verblüffung auslöst. »Da kommt er«, zischen sich die Greise manchmal zu und mustern das vorbeiziehende Tier mit sonderbaren Blicken und argwöhnischen Gesichtern, bevor sie leise weiterreden. Hoffnungsvoll, aber doch mit Zweifel im Herzen denkt der Herr, dies könne seinen Grund darin haben, daß Tschutora noch in den Flegeljahren, also in einem Alter ist, wo Jungen Pickel im Gesicht haben und mit ihren Extremitäten nichts anzufangen wissen. Er ist ja noch im Wachsen … Zudem weiß man nur zu gut, daß die Leute in der Christinenstadt Lästerzungen sind und anderen gern nachreden. Voll eifersüchtigem Trotz reißt er an der Kette und geht
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