Ein Hund mit Charakter
vermeidet es, Bekanntschaften zu machen. Er würde am liebsten überhaupt nicht hierher gehen, doch es wäre zu grausam, Tschutora die Wonnen der Generalswiese vorzuenthalten. Denkt er doch an die eigene maßlose, geradezu krankhaft fiebrige Jugend zurück, an das große Haus in der Provinzstadt, in dem auch er das Leben in seinem ersten Jahrzehnt gleichsam als ein unaufhörliches Räuber- und Gendarmspielen empfunden hat – eine Jugend mit Geheimnissen und Verschwörungen und in permanentem Aufbegehren gegen die gesellschaftliche Ordnung, die Eltern, Lehrer und Hausmeister –, und diese Rebellion entwickelte sich nur ganz allmählich und durch das künstliche Dazwischenschalten von allerlei komplizierten Widerständen zu einer praktischen Kraftquelle, die ihm hilft, die Gesellschaftsordnung zu ertragen und ihr sogar zu dienen. Gelegentlich kommt es ihm vor, als zehre er immer noch von den bis heute wirksamen Reizen dieser glücklichen, ungezügelten Rebellion seiner Kindheit.
Und so schreitet er auch nicht ein, wenn Tschutora sich heftig und ungebärdig widersetzt – Jugend in jeder Form macht ihn verlegen und nötigt ihm zugleich empfindsamen Respekt ab; ist doch die Jugend vielleicht die einzige Ausprägung des Daseins, die ihn befangen macht und entwaffnen kann. Welch ungeheurer Vorrat steht ihr zu Gebote, aus dem sie schöpfen und verschwenden kann, denkt er mit der Ehrfurcht kleiner Leute, wenn er dem launenhaft im Kreis tobenden Tschutora zusieht, der bei ihren Ausflügen nicht einen Augenblick innehält, sich gierig seinem unerfahrenen Jagdinstinkt hingibt, die kümmerliche Fauna aus Spatzen, Krähen, Katzen, Wieseln und Feldmäusen, die diese Wiese besiedelt, aufschreckt, zwischendurch aber auch noch Zeit findet, am Rand der Wiese die berittenen Offiziere mit wütendem Gebell zu umkreisen, Herren, die um der Gesundheit und ihrer Figur willen auf diesem nur bedingt bürgerlichen Gelände, wo Zivilisten und ihre Vierbeiner nachsichtig geduldet sind, gewichtzehrende Galoppaden absolvieren. Tschutora ist zu jedem Exzeß und jeder Kraftverschwendung bereit – ja, vergeude nur, Jugend! …
So, auf der grünen Wiese, macht sich Tschutora gar nicht schlecht. Seiner jünglinghaften Schlankheit kann auch die Überfütterung durch Theres nichts anhaben; er ist noch so dünn, daß man beinahe die Rippen zählen kann. Wenn er über die riesige Fläche dahinstiebt, wirkt er wie die Verkörperung der leichten, schwebenden Bewegung, er gäbe sogar noch ein brauchbares Modell für einen realistisch arbeitenden deutschen Tierbildhauer ab. Selbstvergessen hin und her schießend, erscheint er als Prototyp des »jungen Hundes«, wie man ihn in modernen Ausstellungen bewundern kann – sein Herr ist geradezu gerührt von dieser verzückten Jugend und bereit, Tschutora jede Hilfe und Vergünstigung zu gewähren, damit er seine Hundejugend gefahrlos auskosten kann. Immer wenn er später an diese Zeit von Tschutoras treuloser und ehrlich rebellierender Jugend zurückdenkt, quält er sich mit Vorwürfen, daß er dem jungen Hund nicht mehr Freiheiten und Freuden hat zuteil werden lassen als das kümmerliche Krähenjagen und Kavalleristenverbellen auf der Generalswiese …
Damit er dem Tier die verdammte Kette erst so spät wie möglich an sein Halsband hängen muß, gehen sie auf dem Heimweg im Schutz der Dämmerung, entgegen behördlichen Vorschriften, nicht über die Straße, sondern durchs sumpfige Gestrüpp der Wiese. Im Dämmerlicht sieht der Herr Tschutora kaum noch, hört ihn aber, wenn er heranhechelt, todmüde, doch mit nicht erlahmender Lust in Maulwurfshaufen gräbt und dann in großen Sätzen dem Herrn hinterherjagt, um ihn einzuholen und ihm mit leisem Winseln und seine Hand mit nasser Schnauze berührend zu verstehen zu geben, daß er zurück ist und mit ihm gehen will. Die Kette wird nun nicht mehr gebraucht, keine Versuchung, und sei sie noch so groß, könnte ihn jetzt veranlassen, zurückzubleiben … Der Herr aber kommt nicht los von der Verwunderung, die ihn immer auf dem Nachhauseweg befällt und sich mit der Frage verbindet, warum der wirklich rebellische und nach Freiheit lechzende Tschutora nicht seines Weges geht, sondern bei ihm bleibt, obwohl ihm alle Möglichkeiten zur Flucht offenstehen …
Denn es wäre zu billig und bequem, wollte man dieses Zugehörigkeitsgefühl allein mit dem wohlgefüllten Freßnapf und dem Dach über dem Kopf erklären. Da muß es noch etwas geben, das Tschutora bei all
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