Ein Hund mit Charakter
Gesicht eines lebenden Menschen gesehen hat. Aber Tschutora quengelt, denn sie sind schon am Ziel, und mit der gnadenlosen Unbekümmertheit der Jugend, die sich vom Lächeln einer kranken Frau nicht rühren läßt, zerrt er an der Kette, mault und drängelt zum Weitergehen.
»Was gibt es da zu gaffen?« scheint er seinen Herrn zu fragen, und mit aufgeregter, kaum zu zähmender Ungeduld kläfft er ihn kurz und heftig an: »Jetzt bleibst du stehen, willst in dich gehen, wo schon drei Schritte weiter die große Freiheit lockt, der weite Raum, die Gerüche, die Welt voll wilder Überraschungen. Was soll dir dieses kranke Lächeln? Was ist das schon, verglichen mit der Welt? Was weißt du überhaupt! …« knurrt er voll Verachtung. Vielleicht hat er recht, denkt der Herr, nimmt Tschutora den Beißkorb ab, macht die Kette los und läßt ihn auf der obersten der acht Stufen frei. Vielleicht kann der Blick, mit dem wir das Leben betrachten, tatsächlich nur zum Preis von Siechtum und Todesangst veredelt werden. Doch gibt es auch ein anderes Glück, und nicht weniger tief und innerlich, auch wenn es ungeschliffener und banaler ist … da läuft es!
Oh, die liebe Jugend! … denkt er versöhnt, bleibt unterhalb der Treppe auf dem lehmigen, weichen Boden stehen, lehnt sich auf sein Stöckchen. Jung ist ja auch er noch, doch seine Jugend hat nichts Versöhnliches, ist von anderer Art. Sie steckt voller Zweifel, die verhindern, daß er seiner Leidenschaft bei jeder sich bietenden Gelegenheit freien Lauf läßt. Solche Zweifel sind Tschutora fremd.
Der Hund ist endlich in seinem Element, hat Platz, viel Freiraum für sich, einen Raum, den er erobern kann, ohne Hindernisse und ohne Ziel, und er jagt umher und rennt allein um des Rennens willen. Spürt, wie der Fisch, der ins Wasser geworfen wird, nach nur wenigen, zögernden Bewegungen sein natürliches Element um sich, dem er sich mit Lust und Schwung hingeben kann. Über der Wiese liegt ein dünner Nebelschleier. Tschutora wirft sich mit fliegenden Ohren und hängender Zunge in den Bodennebel, stürmt glücklich und ungeniert jauchzend über die Ebene dahin, fast schwerelos, wie ein fortgeschleuderter Gegenstand, dem äußere Kräfte die Startgeschwindigkeit liefern. Noch ist sein Kreisen ohne Ziel und Zweck, Flora und Fauna interessieren ihn vorläufig nicht, die aufgescheuchten Krähen sind ihm keinen Kläffer wert, lechzend vor Gier rennt er, jagt er, als wollte er die lähmende Schmach seines Sklavendaseins in Sekunden vergessen machen. Er umrundet den Herrn in immer größerer Entfernung, der Radius seiner Kreise wird länger und länger, schließlich sieht man den schwarzen Fleck auf der Linie des äußersten Kreises nur noch dann und wann schemenhaft auftauchen. Weder Pfiffe und Kommandos noch Gebärden richten in den ersten fünf Minuten dieser wahnsinnigen Raserei etwas aus, kein Befehl einer menschlichen Stimme, kein lockender Ruf dringt bis zu ihm. Ziellose, lustvolle Kräfte wirken jetzt in ihm, geheimnisvoller als jede Disziplin und die fragwürdige Bindung an den Menschen. Welch seltsamer Rausch, der eine Kreatur so mitzureißen vermag! – denkt der Herr mit leiser Sehnsucht. Wenn man nur einmal, ein einziges Mal! … Statt immer nur mit »Disziplin«, dieser quälend-wonnigen Kandare des Bewußtseins, langsam, Millimeter für Millimeter in Schwung kommen! … Nicht täglich von neuem beginnen, und dabei immer bewußter, zweifelnder, nüchterner, mit immer weniger Illusionen an dem Rhythmus basteln, der von ferne gesehen vielleicht für Momente die Illusion von Schwung und Leidenschaft vermittelt! Wenn sie wüßten! … Zum Glück wissen sie es nicht. – Solche Gedanken gehen dem Herrn durch den Kopf, dabei hat er sehnsüchtig und neidisch die Kreatur im Blick, die jetzt im ziellosen Schwung unbeschwerter Leidenschaft explodiert ist …
Aber wie bei jedem Exzeß folgt auch auf diesen Hunderausch ein Katzenjammer. Tschutora reduziert allmählich Tempo und Takt, gibt widerstrebend den Mahnungen des fast versagenden Herzens und der keuchenden Lunge nach. Er ändert langsam die Richtung und nähert sich, aus eigenem Entschluß, einem plötzlichen Einfall nachgebend; mit überlautem Gekläff, hängender Zunge und eingezogenem Schwanz schlendert er heran und legt sich in gebührender Entfernung von seinem Herrn hin. Eigentlich ist es ihm jetzt peinlich. Wahrscheinlich schämt er sich, weil er treulos war, die Vereinbarung gebrochen hat, sich einen Dreck um die
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