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Ein Hund mit Charakter

Ein Hund mit Charakter

Titel: Ein Hund mit Charakter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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seinem quälenden und wilden Freiheitsdrang nach Hause zieht – Fressen und Theres sind gewiß nicht alles, was ihn antreibt und lenkt. Doch welche Anziehungskraft, welche Fähigkeiten haben dem erst ein paar Monate alten Hund den Weg gewiesen, als er sich auf einem Spaziergang vom Herrn entfernte und verirrte, auf der Wiese im Dunkeln allein zurückblieb? Er war diesen Weg vorher höchstens dreimal mit dem Herrn gegangen. Eines Tages blieb er wirklich ganz allein auf dem Feld zurück – der Herr pfiff ihm, rief seinen Namen, suchte verärgert die Wiese in ihrer ganzen Länge ab, suchte und schrie. Erst als es finster wurde, ging er bedrückt und mit schlechtem Gewissen heim. Also doch! … dachte er sich trotz seiner Betroffenheit mit einer gewissen Genugtuung und Schadenfreude. Es stimmt nicht, daß es keine Ausnahme gibt, daß niemand bereit ist, die Möglichkeit zu nutzen und Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht verhungert er, oder der Schinder fängt ihn ein, möglicherweise beißen ihn streunende Köter tot: Aber das hat er einkalkuliert, die erstbeste Gelegenheit genutzt und ist ausgerückt. Irgendwie freut es den Herrn. Der Hund tut ihm natürlich leid, er hat sich an seine nette, lustige Bauernschnauze gewöhnt, an die Geschäftigkeit und kindliche Wichtigtuerei, an alle seine Vorlieben und Abneigungen, hat dieses drittklassige Dasein in sein Leben einbezogen, doch alles Bedauern und die Trauer über den Verlust überwiegt die Genugtuung darüber, daß es Kreaturen gibt, die ihre Freiheit nicht für einen Napf Suppe, für ein Almosen opfern, das man ihnen mit erniedrigender Gebärde hinschiebt. Der Herr ist voll des Mitleids und reibt sich doch im stillen die Hände. Sicher streunt er jetzt irgendwo in der Dunkelheit umher, sinnt er in einer romantischen Anwandlung, und wahrscheinlich rast sein jugendliches Herz vor Aufregung; Angst, Einsamkeit und viele Gefahren erwarten ihn, die andere Welt, die große, die ganz banale, alltägliche Welt! Armer Hund …
    Die Fenster oben in der Wohnung sind dunkel; sicher haben diese passiven Zeitgenossen des Epigonenzeitalters bereits alle Treffs und Karos ausgespielt und sind heimgegangen. Als der Herr vor Eile atemlos den ersten Stock erklommen hat, hüpft ihm im schlecht beleuchteten Stiegenhaus etwas gegen die Brust: Tschutora, der zitternd und wie von Sinnen bellend vor der Tür gewartet hat.
    Was ist es, das ihn heimgeführt hat, welche Fähigkeiten konnte er mobilisieren, um über die dunkle Wiese, die er erst zum dritten Mal in seinem Leben gesehen hat, die Straße zu finden, in der er seit ein paar Wochen wohnt, ins Haus, dessen Hausnummer er nicht lesen kann, vor die Tür, hinter der ein Mensch, den er kaum kennt, sein chaotisches Leben lebt. Was ist es, das ihn, erschreckt vom plötzlichen Alleinsein, über einen Kilometer zwischen Autobussen, Autos und Passanten, die so fremd riechen, geradewegs zu seinem Zuhause lenkte, das doch so gar nicht dem entspricht, wonach sich ein junges Hundeherz sehnt, nämlich Freiheit und Abenteuer? Welch unwiderstehliche Kraft hat ihn gedrängt und gezogen, wieso hat er sich nicht davongemacht oder verirrt? Wenn uns zu alldem nichts anderes einfällt, als achselzuckend »Instinkt« zu murmeln, so sind unsere Kenntnisse in einigen Bereichen des Lebens doch ziemlich bescheiden. Hunde können das einfach! – pflegt man in solchen Fällen zu sagen und zur Tagesordnung überzugehen. In der Tat »können« Hunde so etwas; nur können wir es nicht begreifen. Hunde finden einen Tag, nachdem sie in einer wildfremden Stadt angekommen sind, den Weg nach Hause, selbst wenn man sie von irgendwo auf dem Land in eine Großstadt bringt – sogar nach einer Tagesreise, ganz gleich ob im Zug und mit dem Auto, finden sie heim. Tschutora »kann« das auch; doch sein Herr mag dazu nicht einfach die Achseln zucken und gleichmütig über die Sache hinweggehen. Daß ein Tier von seinem »Instinkt« geführt wird, ja, damit kann er sich noch abfinden; denn beim Versagen der Sinnesorgane, also von Augen, Ohren, Nase und Tastgefühl, gibt es eine andere, unbegreifliche Fähigkeit, die uns Menschen im Trubel der Welt und durch ständige Überbeanspruchung weitgehend verlorengegangen ist.
    Aber welcherart ist die Absicht, die ein Tier mit Hilfe seines Instinkts nach Hause führt? – Gegen seine Sehnsüchte und gegen seine Natur, aus der Freiheit heim in den Pferch, wo Kette, Maulkorb und unsinnige Erziehungsmethoden auf ihn warten, wo seinen natürlichen

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