Ein Jahr in Andalusien
Die
hochgewachsenen Zypressen heben sich tiefschwarz von dem hellen Hintergrund ab. Trotz der frühen Stunde weht blecherne Popmusik über das Gelände,
manchmal übertönt von jungen Stimmen. Ich stehe mit dem Filmteam und Eva vor dem eisernen Eingangstor des Friedhofs, das mit einer Kette und einem
einfachen Schloss verriegelt ist. Ein verschlafener Wachmann öffnet uns die Pforte. Mannshohe Steinhaufen türmen sich am Rand eines Wegs, der quer über
den Friedhof führt. „Grabsteine gibt es hier schon lange keine mehr, nur noch Löcher und Berge von Schutt. Und viele Tote“, sagt Eva. „Mehr als
zweitausend liegen unter demsteinigen Boden. Weitere zweitausendvierhundert sind in Kisten verpackt und in Baubungalows verstaut.“ Es
sind Archäologen, die so früh in der Ruhestätte für Unruhe sorgen. Sie knien in einer langen schmalen Grube voller weiß leuchtender, sauber
aneinandergereihter Skelette. Es ist eine junge Mannschaft, kaum einer der Archäologen ist über dreißig. Sie lachen viel, zwei unterhalten sich über das
vergangene Partywochenende, während der eine mit einem Messer Erde aus den Augenhöhlen eines Schädels kratzt und der andere die Hüfte eines Skeletts
freilegt. „Schau, sie ist noch ganz“, sagt der eine und hält den schmalen Hüftknochen wie eine Trophäe in die Luft. Franziska bedeutet dem Kameramann
mit einer Handbewegung, die Szene aufzunehmen. Als die Archäologen Eva sehen, begrüßen sie sie überschwänglich. „Sie war die erste Journalistin, die
sich für uns interessiert hat“, sagt José, der Ausgrabungsleiter. „Seitdem sind Journalisten und Fotografen aus der ganzen Welt gekommen, um unsere
Arbeit zu dokumentieren.“ Eva fragt, wie die Ausgrabungen vorangehen. „Das ist der neunundsiebzigste Körper im neunten Massengrab“, sagt José und
zeigt auf das Skelett, das ein Junge gerade in eine Kiste packt. „Neun Gräber haben wir noch vor uns.“
Mittlerweile ist der Himmel tiefblau, die Hochhäuser des Arbeiterviertels Carretera de Cádiz ragen hoch hinter der zerfallenen Friedhofsmauer
auf. Harte Diskorhythmen röhren jetzt aus dem sandverschmierten Radio. Wir sind mit Eva hinab in die Grube gestiegen, wo sie die Skelette in Augenschein
nimmt. Da taucht am Rand des Grabs José auf, neben ihm steht ein kleiner älterer Herr. Er trägt einen Dreiteiler, sein grauer Schnurrbart ist sauber
rasiert. „¡Hola!“, ruft Eva ihm zu, als sie ihn sieht, und erklärt an mich gewandt: „Das ist José Dorado, der Präsident der Opfervereinigung Asociación
para la Recuperación de la Memoria Histórica in Málaga. Wäre er nicht gewesen, würden heutedie Kinder der umliegenden Hochhaussiedlung
auf dem Gelände spielen. Die Stadt wollte nämlich einen Park auf dem Friedhof errichten, inklusive Spielplatz. Alle Gräber wurden ausgehoben und in den
neuen Friedhof gebracht, weit außerhalb der Stadt. Nur die Gruben mit den Toten aus dem Bürgerkrieg und aus der Franco-Diktatur sollten liegen
bleiben. Menschen wie José haben die Politiker dazu gebracht, die Vergangenheit aufzurollen.“
Der alte Herr, der das Loblied gehört hat, ist verlegen. „Junge Menschen wie du, die ihre Vergangenheit kennenlernen wollen, sind wichtig, damit die
Geschichte nicht vergessen wird. Von meiner Generation bleiben ja nicht mehr viele“, sagt er. Die Kamera läuft jetzt mit. José Dorado erzählt uns, wie
er vor sechs Jahren an Allerheiligen wie jedes Jahr auf dem Friedhof eine Kerze anzünden wollte und am Tor plötzlich ein riesiges Vorhängeschloss
sah. Hinter den Eisenstäben sah er Bulldozer und Berge von Bauschutt. Sein Vater liegt in einem der Massengräber. „Ich bat den Wachmann mich
hereinzulassen, aber der sagte nur, das ginge nicht, das sei jetzt eine Baustelle.“ José Dorado rief sofort im Rathaus an und erfuhr von den Plänen,
auf dem ehemaligen Friedhofsgelände einen Park zu errichten. Von den Massengräbern wollte niemand etwas wissen. Die Tanzmusik scheppert immer noch aus
dem kleinen Transistorradio. Den älteren Herrn scheint sie nicht zu stören. „Zuerst habe ich dann versucht, im Rathaus zu erreichen, dass unsere
Angehörigen geborgen werden. Keiner wollte etwas tun. Dann bin ich zur Landesregierung nach Sevilla gefahren. Ich habe so lange gedrängt, bis mir jemand
helfen wollte“, fährt der grauhaarige Mann fort. Jeden Tag schaut er seit Ausgrabungsbeginn auf dem Friedhof vorbei, er beobachtet, wie die Archäologen
die Knochen freilegen, plaudert mit den
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