Ein Jahr in Andalusien
vor der Stadt steht,
packen die Bürger der Stadt und der letzten roten Dörfer wenige Wertsachen und ein paar Kleidungsstücke ein und machen sich auf den Weg nach Almería,
der letzten Bastion der Republikaner in Andalusien. Einige Quellen sprechen von 40 000 Menschen, die ihre Heimat aus Angst vor den Truppen Francos
zurücklassen, andere von 150 000. Auf der Küstenstraße kann man kaum laufen vor lauter Menschen. Wer müde ist, legt sich an den Straßenrand. Mütter
tragen ihre Kinder, Söhne nehmen ihre alten Eltern auf die Schultern. Drei Tage dauert der Exodus, Málaga ist mittlerweile von Francos Truppen
eingenommen, da hören die Flüchtlinge die ersten Flugzeuge. Vom Meer her nähern sich zweiSchiffe des nationalen Lagers, sie haben die
Malagueños im Visier. Deutsche und italienische Flieger – Hitler und Mussolini unterstützen Franco – lassen über La Cala del Moral die ersten Bomben
fallen. Ins Gedächtnis der wenigen Überlebenden graben sich schreckliche Bilder.“ Als ich aufhöre zu erzählen, ist es still im Auto. Schließlich sagt
Franziska: „Genauso erklären wir die Geschichte in unserem Film. Du musst für die Sequenz unbedingt Archivbilder suchen.“
Auf der übrigen Rückfahrt nach Granada schweigen wir. Die Abendsonne taucht die Olivenhaine in ein goldenes Licht. Bei Casabermeja passieren wir einen
der riesigen schwarzen Obsorne-Stiere, der hier direkt am Straßenrand steht. Noch bevor wir in Granada im Hotel ankommen, ist es stockdunkel.
Dezember
Machos und Tortilla
Die Stimmung in meinem arabischen Viertel in Granada erinnert mich jetzt im Dezember ein bisschen an einen alternativen Weihnachtsmarkt. In der Stadt
ist es klirrend kalt, die Gipfel der Sierra Nevada sind schneebedeckt. In den engen Gassen des Albayzin bieten die marokkanischen Einwanderer wie immer
Ledertaschen, bunte Pantoffeln, glitzernde Ohrringe und Lampen feil. Überall duftet es nach Räucherstäbchen. In den Teterías servieren die Kellner
dampfenden Tee und zuckersüßes Gebäck. Touristen sind jetzt viel seltener unterwegs als in den Sommermonaten.
Jaime, der dieses Dezemberwochenende bei mir verbringt, steuert zielstrebig auf ein Teehaus zu, „das beste in der ganzen Stadt“, hat er
geschwärmt. Wir sind dick eingepackt und unser Atem bildet kleine Wölkchen in der Luft. „Wie kalt ist es in Deutschland?“, fragt Jaime. Nördlich von
Spanien war er bisher nur einmal; als er seine Mutter bei einer Wallfahrt nach Lourdes begleitet hat. „Es ist genauso kalt wie hier, nur dass es in den
Häusern immer schön warm ist. In meinem Leben habe ich noch nie so gefroren wie hier.“ Jaime blickt mich skeptisch schräg von der Seite an. „Aber du
musst doch an die Kälte gewöhnt sein.“ Ich schüttele mich. „Von wegen.“
In der vergangenen Woche sind die Temperaturen in Granada das erste Mal auf null Grad gefallen, in den Häusern liegen sie bei maximal fünfzehn. Meinen
dicken Daunenmantel habe ich seitdem nicht mehr ausgezogen. Länger als eine halbe Stunde kann ich nicht am Computerschreiben, dann
muss ich meine Finger an einer heißen Tasse Tee auftauen. Der kleine Heizstrahler, den ich gekauft habe, nachdem ich in der ersten kalten Nacht kein
Auge zutun konnte, weicht nicht von meiner Seite. Ich nehme ihn mit vom Schlafzimmer ins Bad, von dort in die Küche, und dann stelle ich ihn unter
meinen Schreibtisch. Über meine Beine und den Strahler lege ich eine Decke, ganz im Stil der Mesa Camilla. Doch auch wenn er auf Hochtouren läuft,
richtet er gegen die eisigen Temperaturen kaum etwas aus.
Wir stoßen die Tür zu Jaimes Lieblingstetería auf, das sanfte Klirren eines Glasmobiles erklingt, das die arabische Musik, die den Raum erfüllt,
untermalt. Kaum nehmen wir Schal und Mütze ab, will uns schon der Kellner zu einem freien Tischchen führen. „Wir würden gern in das Turmzimmer“, sagt
Jaime geheimnisvoll, dazu setzt er eine wichtige Miene auf. Der Kellner weist uns den Weg zu einer schmalen Wendeltreppe im hinteren Teil der
Tetería. „Dos tés morunos“, bestellt Jaime, bevor wir uns nach oben schrauben. Kaum sind wir in der oberen Etage angelangt, erkläre auch ich das
Teehaus zu meinem neuen Liebling. Ein filigranes Holztischchen steht ganz allein unter einer Glaskuppel, durch die wir in den Winterhimmel blicken. Drum
herum sind bunte, mit Spiegelchen bestickte Sitzkissen verteilt. „Das ist mein Geheimtipp“, sagt Jaime mit einem zufriedenen Lächeln. Der Kellner
bringt uns zwei Tassen
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