Ein Jahr in Andalusien
Freiwilligen, die dabei helfen, und mit Journalisten. „Wir haben es nur deshalb geschafft, dass die Toten
geborgen werden,weil wir sehr diplomatisch vorgegangen sind“, sagt José Dorado zu uns. Im Umgang mit der Kamera ist er geübt, er
spricht ganz natürlich, so als wäre sie gar nicht da. „Wir haben nie Rachegefühle gehegt. Es ging uns auch nie darum, jemandem die Schuld zu geben. Wir
wollen einfach nur, dass unsere Angehörigen eine würdige letzte Stätte bekommen und dass dieser Teil der spanischen Geschichte nicht in Vergessenheit
gerät. Es gibt zu viele Familien, die das Thema totschweigen, weil sie immer noch Angst vor Verfolgungen haben.“
Anfang des nächsten Jahres wird in einer Ecke des Geländes ein Mausoleum entstehen. Alle viertausendfünfhundert Toten sollen dort untergebracht
werden. Davor werden DNA-Proben von den Angehörigen entnommen, damit die Körper identifiziert werden können. Eva hat ihre Daten bereits
abgeliefert. „Mein Großvater war bisher noch nicht unter den Toten.“ Erst wenn alle Körper geborgen sind, darf der Stadtpark jetzt kommen.
Evas Mutter Rosario ist stolz auf die Initiative ihrer Tochter, doch richtig verstehen kann sie nicht, wieso sie mit solchem Eifer
mehr über ihre eigene Vergangenheit erfahren will. „Was passiert ist, ist nun mal passiert. Meine Eltern wollten genauso wenig über diese Zeit sprechen
wie die Familie von meinem Mann. Also haben wir auch nie nachgefragt“, sagt sie. Rosario hat früh ihr Dorf verlassen, um mit ihrem Mann, der in Málaga
arbeitete, zusammenzuziehen. Sie ist eine zierliche, stille Frau. Jeden Mittag kocht sie ein Dreigängemenü für die beiden knapp dreißigjährigen Söhne,
die immer noch bei ihr wohnen, sie wäscht ihre Wäsche und putzt die Zimmer. Selten trifft sie sich mit Freundinnen. „Zu Eva habe ich immer gesagt, sie
soll es nicht so wie ich machen, sondern studieren um selbstständig leben zu können.“ „Meine Mutter hat ein traditionelles Leben gewählt.Es ist ganz anders als meines, aber genauso wertvoll“, sagt Eva, die am Küchentisch sitzt und zusieht, wie Rosario ein Huhn für das
Mittagessen zerlegt. „Sie war eben sehr in meinen Vater verliebt.“ Rosario sieht Eva kritisch an. „So einfach, wie du es darstellst, ist es nicht
gewesen. Ich hatte keine Wahl. Früher war es normal, früh zu heiraten und die Arbeit aufzugeben, sobald das erste Kind da war. Unter Franco waren wir
Frauen Menschen zweiter Klasse. Um ein anderes Leben zu führen, hätte ich kämpfen müssen, und ich war nie eine Rebellin.“ „Aber du hättest doch nach
dem Ende der Diktatur etwas ändern können, wenn du gewollt hättest. Du hast mir immer gesagt, ich soll unabhängig sein, aber deine Söhne hast du noch
nach ganz alten Maßstäben erzogen. Sie mussten nie abwaschen oder den Tisch decken. Das war immer meine und deine Aufgabe. Jetzt sind sie fast dreißig
und wohnen noch zu Hause, damit du sie umsorgst – und sie rühren keinen Finger!“ Eva hat anscheinend ein heikles Thema angesprochen, denn Rosario
druckst herum, weiß nicht recht, was sie antworten soll. Schließlich sagt sie kleinlaut: „Natürlich hast du recht, aber es ist nicht so einfach, etwas
zu ändern, was man so sehr verinnerlicht hat.“
Später sitzen wir alle am Tisch vor dampfenden Tellern. Rosario hat zur Feier des Tages Paella gekocht. Doch während wir schlemmen, rührt sie den
Löffel kaum an. Ihr Blick wandert von einem zum anderen, um sicherzugehen, dass es uns an nichts fehlt. Sobald ein Teller leer ist, springt sie auf und
lädt nach, sie selbst isst nur ein paar Happen. Und erst als wir schließlich mehrmals betonen, dass wir wirklich satt sind, räumt sie die Pfanne weg und
häuft Berge von Obst vor uns auf. Weintrauben, Birnen, Pflaumen und Bananen. „In Andalusien gilt es als unhöflich, wenn man nicht alles auf den Tisch
räumt, was man hat. Der Gast ist König“, sagt Eva, als ihre Mutter wieder einmal in derKüche verschwunden ist, dieses Mal, um den
Kaffee aufzusetzen.
Als Franziska und ich ins Hotel fahren, fasse ich das Gespräch der beiden Frauen, das wir mit der Kamera aufgezeichnet haben, zusammen. Sie ist
begeistert. „Besser hätte es nicht laufen können, in der Familie steckt so viel Konfliktpotential! Die Tochter stellt das Leben der Mutter in Frage und
kämpft gegen das Schweigen über die Vergangenheit in der eigenen Familie und im ganzen Land an. Jetzt bin ich noch auf die Großmutter gespannt.“
„Bésame,
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