Ein Jahr in Andalusien
dem vollgepackten Vormittag einen Bärenhunger. Auf der Tageskarte
steht das Gericht Rabo de Toro, Stierschwanz, aber wir wählen beide lieber den vegetarischen Puchero de Berza, Kohl-Eintopf. „Das waren zwei
interessante Persönlichkeiten“, sage ich zu meiner Mutter, während wir auf das Essen warten. „Ja, beide haben ein ganz besonderes Leben gewählt.“ Mich
fasziniert vor allem das Leben von Rocío, ich fühle mich mit ihr verbunden, weil ich auch aus einer Großstadt der Liebe wegen in die andalusische
Provinz gezogen bin. Gut, Málaga ist eine Stadt, aber im Vergleich zu München … „Meinst du, dass Rocío wirklich glücklich dabei ist, wenn sie Touristen
über die Finca führt und Folkloreveranstaltungen organisiert? Das ist doch, denkt man an ihr Leben als Bühnenbildnerin, ziemlich langweilig“, sage
ich. „Das kommt ganz drauf an, wie sie das sieht. Sie fasziniert die Welt des Stierkampfes, und dann hat sie auch noch ihren Mann kennengelernt …“ „…
für den sie jetzt jeden Tag kochen muss“, vervollständige ich den Satz. „Ich finde das bedrückend.“ Gerade stellt der Kellner zwei Teller mit dem
dampfenden Puchero vor uns hin. Wie zwei Raubkatzen fallen wir darüber her. „Kann es sein, dass du Angst hast, Eintopf kochend und mit zwei Kindern an
jedem Rockzipfel zu enden?“, fragt meine Mutter, nachdem sie den Puchero vertilgt hat. Ertappt. „Irgendwie schon …“, sage ich, und mir wird noch
banger. „Das ist doch Blödsinn. Wenn du so ein Leben nicht willst, bekommst du es auch nicht.“ „Aber ich habe Angst, hineinzurutschen, ohne dass ich es
merke.“ „Also ich glaube nicht, dass du das Zeug zur strammen Hausfrau hast, und außerdem will Jaime bestimmt nicht so eine Partnerin an seiner Seite.
“ „Da bin ich mir eben nicht so ganz sicher.“ „Dann musst du das aber bald herausfinden.“
Unsere Unterhaltung geht mir während der nächsten Tage unserer Reise nicht mehr aus dem Kopf. Wir stiefeln durch Korkeichenwälder, vorbei an
Eisenerzminen, laufen durch viele kleine, ursprüngliche Dörfer. Jeden Abend speisen wir vorzüglich in Landgasthäusern, und jede Nacht verbringen wir in
einer anderen Pension oder in einem Apartment. Doch das Bild der kochenden Hausfrau hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Aus irgendeinem Grund traue
ich meinem eigenen Schicksal nicht über den Weg. Ich mache mir echte Sorgen, dass die andalusische Gesellschaft mich zu Verhaltensweisen verleiten
könnte, die mir fremd sind und mich zur treu sorgenden Hausfrau machen könnte, die ihre eigenen beruflichen Pläne zugunsten des Familienlebens hinten
anstellt. In meinem Kopf arbeite ich deshalb einen Schlachtplan aus, um mich nicht in einer ungeliebten Rolle wiederzufinden. Zuerst muss ich auf
eigenen Beinen stehen, Aufträge an Land ziehen, so lautet meine oberste Priorität. Dann muss ich auch in Málaga einen eigenen Freundeskreis aufbauen,
unabhängig von Jaime. Mein drittes Ziel ist, dass unser Zusammenleben auf Gleichheit basiert. Die drei Punkte schreibe ich in ein kleines Notizbuch, das
ich stets dabei habe. Als ich Jaime nach der Rückkehr aus der Sierra Morena von meinem Plan erzähle, sagt er erst abfällig: „Mann, bist du deutsch.
“ Dann blickt er mich lange schweigsam an. „Meinst du etwa, unsere Beziehung könnte dich von deiner Selbstverwirklichung abhalten?“, fragt er mich
schließlich, etwas traurig. Ich beiße mir auf die Zunge. Ihm hätte ich von meinen Gedanken doch wirklich nichts sagen müssen. Dann geht er demonstrativ
in die Küche und bereitet das Abendessen vor.
März
Das Erbe der Araber
Der grauhaarige Mann, der mir gegenübersitzt, trägt eine Kippa, die kleine jüdische Kappe, auf dem Hinterkopf, halblanges Haar und einen Kinnbart, dazu
braune Cordhosen und eine beigefarbene Strickjacke über dem dunkelblauen Hemd. „Was weißt du über Maimonides und Averroes?“, fragt er in breitem
Amerikanisch und blickt mich mit seinen kühlen graublauen Augen durchdringend an.
Gestern fand ich in meinem Posteingang die E-Mail einer Produktionsfirma aus Málaga, die mit einem amerikanisch-jüdischen Regisseur einen
Dokumentarfilm über das Erbe der Mauren in Andalusien drehen will. Sie brauchen dringend einen Aufnahmeleiter, der auch Englisch kann – der Mann, der
den Job eigentlich übernehmen sollte, ist kurzfristig abgesprungen. Die Geschichte dreht sich um die beiden historischen Figuren Averroes und Maimonides
und um deren Nachwirken im heutigen
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