Ein Jahr in Andalusien
einer Trockenmauer steht in etwa drei Meter Entfernung ein riesiger schwarzer Stier und blickt uns direkt an. Seine beiden perfekt
geschwungenen Hörner sind genau auf uns gerichtet. Wie hypnotisiert bleiben wir stehen. „Keine Angst, der ist ganz friedlich. Er schnaubt nicht und
scharrt nicht mit seinen Hufen auf dem Boden“, flüstere ich nach ein paar Sekunden. Doch vorsichtshalber lasse ich den Stier nicht aus den Augen. „Das
kann sich aber ändern, und das Mäuerchen ist ihm dann bestimmt nicht im Weg“, murmelt meine Mutter. „Du trägst auch noch Rot!“ Tatsächlich, ich habe
ein knallrotes T-Shirt an. „Ich glaube, die Farbe ist dem Stier ziemlich egal, er reagiert nur auf die Bewegung. Das rote Tuch schüttelt der Torero in
der Arena ständig, um den Stier zu reizen“, sage ich, immer noch leise, um meine Mutter zu beruhigen. Nach einer kleinen Ewigkeit scheint unser Anblick
den Stier zu langweilen, denn er wendet sich einfach ab und trabt durch den Korkeichenwald davon.
Gerade wollen auch wir uns in Bewegung setzen, da taucht ein Mann hinter der Mauer auf, nicht weit von der Stelle entfernt, wo eben noch der Stier
stand. Er sammelt ein paar Eicheln vom Boden auf. „Buenas tardes“, sage ich so laut, dass er mich hören muss. „Gehört der Stier Ihnen?“ „Ojalá –
Schön wär’s. Ich bin nur der Stalljunge.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er an: „Das ist ein echtes Prachtexemplar.“ Das Gesicht des
hochgewachsenen, schmalen Manns ist wettergegerbt, er trägt eine speckige Baskenmütze und abgetragene Jeans. Wir geraten ins Plaudern, und er erzählt
uns, dass er seit dreiunddreißig Jahren auf dem Gutshof einer Stierzüchterfamilie arbeitet und sich jedenTag um die Stiere
kümmert. „Ich arbeite als freie Journalistin in Málaga, die Stierzucht interessiert mich brennend. Meinen Sie, dass es möglich wäre, die Finca zu
besuchen?“ Auch wenn meine Mutter kaum Spanisch kann, versteht sie, auf was ich hinauswill. Sie nickt heftig zu jedem meiner Sätze. Die Idee, die
Kampfstieraufzucht aus nächster Nähe zu sehen, findet sie anscheinend auch spannend. „Wieso nicht? Ich spreche mal mit la Jefa – der Chefin. Ruft mich
morgen Vormittag an.“ Er diktiert mir seine Telefonnummer und stellt sich als Pablo – „el que habla con los toros – der Stiereflüsterer“ – vor. Das
klingt draufgängerischer, als der Mann auf den ersten Blick wirkt. Unser Interesse hat er nur gesteigert.
Pablo steht neben einem Kampfstier am Futtertrog, in einer Hand hält er einen Sack mit Futter, in der anderen eine Kelle, mit der er
das Kraftfutter in den Trog schaufelt. Der Stier ist schwarz und riesig. Furchteinflößend sieht das Tier jedoch nicht aus. Vielmehr schaut es
erwartungsvoll und ruhig in Richtung Pablo. Anscheinend haben wir es wirklich mit einem Stiereflüsterer zu tun. Seine Jefa sei von der Idee begeistert,
dass ich einen Artikel über die Stierzucht schreiben will, sagte Pablo, als ich ihn am Vormittag anrief. Eine halbe Stunde später standen meine Mutter
und ich schon auf dem Hof. Die Frau des Züchters, die Pablo nur „La Jefa – die Chefin“ nennt, nahm uns in Empfang und reichte uns mit den Worten
„Pablo zeigt euch alles, er kennt sich mit den Stieren am besten aus“ an den Stalljungen weiter. Jetzt sitzen wir in einem alten, verrosteten Jeep,
während Pablo vor unseren Augen die Stiere füttert. „Normalerweise besuche ich meine Stiere zu Fuß, aber weil sie euch nicht kennen, ist es besser, ihr
seid geschützt im Wagen.“ Er trägt wie am Vortag Baskenmütze und speckige Jeans. Mit der flachen Hand streichelt er den breiten Hals des Stiers, alsder sich über den Trog beugt. „Jeden Tag bin ich mit ihnen zusammen, von sieben Uhr morgens bis zum Sonnenuntergang. “
Als wir in dem klapprigen Gefährt durch den Morast der Finca holpern, erzählt uns Pablo, wie alles begann. Mit fünfzehn fing er als Stalljunge bei der
Stierzüchterfamilie an, schon damals verbrachte er fast jeden Tag mit den Toros. Heute ist er der Verwalter der Fincas der Familie, nur manchmal hat er
sonntags frei, gerade arbeitet er seit zwei Monaten ohne Unterbrechung. Pablo erzählt mit so viel Begeisterung von seiner Arbeit, dass man den Eindruck
gewinnt, er würde die freie Zeit gar nicht missen. „Die Ferias in ganz Spanien beginnen bald und damit auch die Stierkampfsaison. Deshalb müssen die
Kampfstiere jetzt besonders gepflegt werden. Wir haben rund vierhundert Hektar Land, auf denen mehr
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